Wiegenlied Roman
ließen oder mit den verwickelten Zwängen einer großstädtischen Gesellschaft zu tun hatten. Eine Geburt etwa, bei der Helenes Anwesenheit gewünscht war, hatte sich kompliziert entwickelt. Ihr Vater war plötzlich erkrankt. Oder aber ihre Schwester hatte sie sich unerbittlich als Begleiterin für das Paganini-Konzert gewünscht, was Helene ihr natürlich, ohne zwingende Gründe zu nennen, nicht hatte abschlagen können.
Wie sehr er hoffte, sie anzutreffen, als er die kaum beleuchtete Treppe zum ersten Stock hinaufstürmte, jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend. Wie sehr er sich wünschte, sie erschöpft vorzufinden, Bedauern und Erleichterung in ihrem übermüdeten Gesicht zu entdecken, wenn er die Abteilung der Geburtshilfe betreten und an die halb geöffnete Tür des Hebammenzimmers klopfen würde. Wie sehr er sie liebte, das konnte er selbst kaum begreifen. Seit er ihr zum ersten Mal begegnet war, damals - es schien Jahre her -, als er sie aus der Bibliothek hatte kommen sehen, war er von einer ihm bis dahin unbekannten Unruhe, ja Angst erfasst, dass er versäumen könnte, das Richtige zu tun. Dass er sie
verlieren könnte. Dass es ihm durch ein dummes Versäumnis womöglich nicht gelingen könnte, sie für sich einzunehmen.
Zwei Krankenwärter kamen ihm entgegen, eine Totenbahre zwischen sich. Bestürzt über die Egomanie seiner Gedankenwelt, wich er ihnen aus. Während die Männer an ihm vorbeieilten, konnte er unter dem grauen Laken die Füße einer toten Frau sehen. Sie steckten in löchrigen Strümpfen, die zu den Fesseln herabgerutscht waren, und er hätte sie gern bedeckt.
Im großen Schlafsaal traf er auf Doktor Novak, der unter rußenden Wandleuchtern an einer der ersten Bettstellen eine Fiebernde zur Ader ließ. Der Mann hatte allergrößte Mühe, seinen Zorn niederzukämpfen, als Finlay nach Helene fragte.
»Sie ist nicht hier«, blaffte er. »Wenn Sie statt ihrer, was mich wundern würde, die Hebamme Pusche sprechen möchten, so finden Sie diese bei den Wäscheschränken, von denen sie zweifellos mit leeren Händen zurückkommen wird, weil wir nämlich unsere dürftigen Bestände aufgebraucht haben.«
Er sah um sich und konnte einen Fluch nicht unterdrücken. Wortlos nahm Finlay ihm die Schale mit dem Blut ab. Novak, dem unablässig das Haar in die Augen fiel, verband hastig den Fuß der heftig atmenden Frau. Es war unerträglich heiß und stickig. Räucherdämpfe standen wie Bodennebel zwischen den Betten und vermischten sich mit den durchdringenden Gerüchen von Durchfällen, Schweiß und Mutterfluss. In der Mitte des Saals glühte ein schwerer eiserner Ofen.
Finlay legte Hut und Mantel auf den nächstbesten Schemel. Er machte keine großen Worte, um sich vorzustellen,
und fragte gar nicht erst, ob seine Hilfe erwünscht war. Novak in seiner Erschöpfung hatte nicht mehr den geringsten Funken jener Eitelkeit im Leibe, mit der er sich diesen Nachtdienst eingebrockt hatte, dessen horribler Verlauf nicht abzusehen gewesen war. Tatsächlich hatten die Zeichen der vergangenen Tage und Nächte, in denen sie erste trockene Fröste verzeichneten, auf ein Ende der contagiösen Entwicklungen hoffen lassen.
Paganini interessierte Novak einen feuchten Kehricht, dafür hatte er wahrhaftig kein Opfer bringen müssen. Hähnlein und Heuser, mitsamt seiner anstrengenden Tochter, sie sollten doch bitte alle ihren Kunstgenuss haben - er brauchte das wie einen Kropf. Lieber machte er sich eine Nacht lang vom Ersten Assistenten zum Leiter der Gebärabteilung. Da wegen des Fiebers weder Hebammenschülerinnen noch Studenten in der Abteilung zugelassen waren, hatte er zwei junge Stabsärzte von der Militärakademie angefordert und bekommen. Hähnlein und ebenso Heuser musste er versichern, Nachricht zu geben, falls sich Vorfälle dramatischen Ausmaßes ereigneten, gleichgültig ob er das Konzert oder das anschließend geplante Nachtmahl im Hotel de Rome stören würde.
Als eine der Charité-Droschken gleich zwei Schwangere herantransportierte - vermutlich noch bevor Paganini den ersten Strich auf seiner Geige tat -, hatte Novaks Stolz es ihm verboten, einen Kurier mit einer Depesche zu schicken.
Eine der beiden Frauen, eine Erstgebärende von zwanzig Jahren, befand sich mit schon gebrochenen Wassern bereits in heftigen Wehen. Bei der anderen, die im siebenunddreißigsten Jahr ihr achtes Kind erwartete, ergab die Visitation eine Fußlage.
Während Novak mit der Pusche die Jüngere zu entbinden suchte, was
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