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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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schwierig wurde, als die Patientin in plötzlichen Irrsinn verfiel und derart tobte, dass ihr auch mit mehreren Gaben Laudanum nicht beizukommen war, repetierte einer der hinzueilenden Stabsärzte ihm, dass sich bei der zweiten Kreißenden nach dem Blasensprung ein Vorfall der Nabelschnur ergeben hatte, eine Komplikation, die er nicht zu bewältigen wusste. Novak also hatte die Pusche allein lassen müssen, denn der wiederum andere junge Kollege befand sich am Bett einer Wöchnerin, die ihrem Ende entgegendelirierte, was weder Chinarinde noch zwanzig Blutegel an ihrem aufgetriebenen Unterleib verhindern konnten.
    Finlay hörte Novak aufmerksam zu, während er mit ihm durch den Schlafsaal von Bett zu Bett eilte. Den Mittelgang, der auf das Hebammenzimmer zuführte, hatte man mit spanischen Wänden unterteilt, die in der Not aus mehreren Abteilungen der Charité zusammengeklaubt worden waren, um gesunde von erkrankten Wöchnerinnen zu trennen. Einige Küchenmägde unternahmen Räucherungen, mit den Schürzen vor Mund und Nase gedrückt, ihre leisen Flüche erstickend. Besonders die Essigräucherungen reizten alle zu quälendem Husten. Den Wöchnerinnen hatte man empfohlen, ihre Säuglinge anzulegen.
    Die Schwangeren, derzeit acht, hielten sich angstvoll in den übrigen drei Kammern auf, die über jeweils vier Betten verfügten, sechs davon waren also leer. Jedes Mal, wenn die Totenglocke auf den Gängen geläutet hatte, war mindestens eine von ihnen außer sich geraten, sodass man das Läuten fürs Erste hatte verbieten lassen. Allein in den vergangenen fünf Tagen mussten sie vierzehn Leichenöffnungen bewältigen, alle mit gleichem Ergebnis. In den Bauchhöhlen der
Toten fanden sich die üblichen flockigen Flüssigkeiten und Fäulnisse.
    Eine Separation der Kindbettfiebernden, wie Finlay sie nahelegte, lehnte Novak auf der Stelle als undurchführbar ab. Stattdessen trieb er wegen nichtiger Gründe brüllend die Pusche in die Flucht, weil sie die einzige Person war, an die er seinen Kasernenton loswerden konnte, damit ihn die Last der Verantwortung nicht bei lebendigem Leibe erstickte. Finlay, der die Ruhe behielt und Novak davon zu überzeugen suchte, dass nur schnelles Handeln Leben retten konnte, hatte ihn eben so weit, sich mit ihm an den Tisch des Hebammenzimmers zu setzen, das Protokollbuch zurate zu ziehen - in dem er Helenes Handschrift erkannte, was ihn für einen unglücklichen Moment zu der quälenden Frage zurückführte, wo sie war - und zu entscheiden, wie sie vorgehen wollten.
    Vom Mittelgang näherten sich eilige Schritte.
    Der Pusche stand das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben.
    »Es ist wieder eine von der Königsmauer«, keuchte sie. »Sie ist schon halb tot, wenn Sie mich fragen.«
    Krachend flog der Stuhl zu Boden, als Novak aufsprang und an der Hebamme vorbeidrängte.
     
    Einer der Stabsärzte hatte Wanda Reinboth geistesgegenwärtig im Entbindungszimmer auf das Gebärbett legen lassen. Novak setzte sich sogleich zwischen ihre Beine, deren Zittern Finlay ruhig zu halten suchte, und der assistierende Stabsarzt reichte ihm das flüchtig gewärmte Speculum an. Schluchzend spuckte Wanda Blut. Sie schien aus allen Körperöffnungen zu bluten.

    Während der Tod über das Leben zu siegen begann, verstand Finlay, dass sie nach jemandem namens Lula rief, und er begriff, dass es sich bei dieser Person um den Menschen handeln musste, den diese magere, in ihrem Innersten verletzte Frau liebte.
    »Ich will ihn tot sehen, der dies anrichtet«, sagte Novak, als Wanda unter ihren Händen gestorben war. »Am liebsten wäre mir, ich könnte ihn eigenhändig erschießen.«
    Stattdessen schickte er Boltz, den Krankenwärter der Irrsinnigen.
    Eine verheerende Stunde später, in deren Verlaufe das Steißlagen-Kind unter Zuhilfenahme der Zange tot geboren wurde, fand sich mit dem Inspektor der Sittenpolizei ein physicus forensis - bei dem es sich bedauerlicherweise nicht um Blunck handelte - in der Charité ein. Sie begutachteten das inzwischen sechste Opfer des Engelmachers und nahmen zu Protokoll, was Doktor Novak ihnen zu sagen hatte.
    Als Finlay die Charité gegen Mitternacht verließ, hörte er die Hebamme Pusche heulend beichten, dass Wanda Reinboth von einer dicken, ganz offensichtlich liederlichen Person hergebracht worden war, die eine ganze Weile auf dem Gang gewartet hatte und plötzlich, wohl während Boltz sich auf dem Weg zur Polizeiinspektion befand, verschwunden war.

    Paganini hatte gespielt

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