Wiegenlied Roman
wie ein Gott. Er hatte das Opernhaus in ein Schiff verwandelt, das auf einem von ungestillten Sehnsüchten und Sentiment aufgewühlten Ozean umhergeworfen wurde. Hemmungslos hatten die Leute geweint und
geseufzt, man lag sich in den Armen oder vornübergebeugt in sich versunken, und nachdem alles vorbei war, begegneten die Menschen einander mit einer gewissen Scham, weil eine so überwältigende Ähnlichkeit des Empfindens möglich gewesen war.
Lange bevor die Beifallsstürme des Publikums zu einem Ende kamen, hatte Elsa die Loge verlassen. Im Foyer zog sie den Pelz um die Schultern, nicht ohne zu bemerken, dass die Theaterdiener über sie tuschelten.
Nach der dritten Caprice Paganinis, als es ihr mit einiger Willensanstrengung endlich gelungen war, das Weinen einzustellen - denn keinesfalls wollte sie aus der Gästeloge des Königshauses mit geschwollenen Augen abgehen -, transformierte Elsa bereits in die Rolle der Lasziven, der klugen Geliebten, die mit noch mindestens einem Geheimnis aufzuwarten hatte.
Letztlich war alles eine Frage der Haltung. Aufrecht! Eine anmutige Haltung des Kopfes. Profil zeigen. Mit den nackten Schultern spielen, wobei die Verwendung des Opernglases hilfreich war, ebenso der Fächer.
Denn sollte es sich ergeben, dass sie der Verlobten vorgestellt werden würde, so musste sie nicht nur hinreißend schön sein, was sich unverweint von selbst ergab, sondern vor allem anbetungswürdig gelassen. Bestenfalls würde ihr ein Scherz über die Lippen perlen, der exklusiv die kleine Prinzessin zu einem erlösten Lachen brachte. Ihre Augen jedenfalls würden gerötet sein, denn ihr Spitzentüchlein hatte sich unentwegt im Einsatz befunden, Wilhelm Ludwig hatte mit seinem aushelfen müssen.
Und erst in diesem Moment, als sie versucht war, an ihren Fingern abzuzählen, wie oft sie aus den Augenwinkeln zur
königlichen Loge gespäht hatte, tatsächlich erst jetzt, als mit einem Mal die Türen geöffnet wurden und sich mit den Hunderten von Menschen, die den Konzertsaal verließen, ein Summen ausbreitete wie in einem gewaltigen Bienenstock, kam Elsa zu Bewusstsein, dass sie die Fürstin nicht gesehen hatte.
Konnte es sein, dass sie ihrer Aufmerksamkeit wegen des eingeschränkten Blickfelds entgangen war?
Nein!
Niemals hätte sie an einem anderen Platz als an der Seite ihres Gatten gesessen. Und der König, das konnte Elsa schwören, hatte Prinzessin Elisabeth Ludovika von Bayern, die Frau des Kronprinzen, zu seiner Rechten und Prinzessin Augusta von Sachsen-Weimar-Eisenach, die Verlobte seines Zweitgeborenen, zur Linken gehabt.
Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, spürte sie, wie jemand hinter sie trat. Die Art, wie seine Stimme über ihren Nacken strich, bevor sie ihr Ohr erreichte, war unvergleichlich.
»Wie hast du es empfunden?«, fragte Moritz. »Mich hat sein Spiel in den Himmel gehoben.«
Sie wandte sich um, als seine Hand die ihre schon an die Lippen führte. Es zerriss ihr das Herz, ihn zu sehen.
Friedo hatte dem Mâitre d’Hôtel eine Menge Geld hingezählt, um an diesem besonderen Abend einen guten Tisch zu bekommen. Zusammen mit der nagelneuen Toilette für Celestine hatte Perdita eine saftige Summe in ihre gemeinsame Zukunft investieren müssen. Es war im Folgenden nicht einfach
gewesen, sie davon zu überzeugen, besser die Stellung im Bordell zu halten, als ihn und Celestine ins Hotel de Rome zu begleiten.
Als es ihm am heutigen Nachmittag erstmalig nicht gelingen wollte, seine Liebesdienste an ihr zu verrichten, was ihm leidtat und Perdita in einen gekränkten Weinkrampf schickte, hatte sie ihn, bevor sie ihn mit weiteren zehn Silbertalern für den Abend ausstattete, einen Wechsel unterschreiben lassen. Doch das war nichts, was Friedo ernsthaft beunruhigte.
Schon als er mit Celestine den Speisesaal des Hotels betrat, wusste er, dass sich jeder Ärger, der ihm mit Perdita möglicherweise noch blühte, lohnen würde. Sie erregten Aufsehen. Die Leute starrten nicht, sie staunten. Und er hatte den Zeitpunkt ihres Eintreffens gut gewählt, denn es mochte an den enthusiastischen Empfindungen liegen, die das Publikum des Opernhauses ins Hotel de Rome getragen hatte, dass man Celestines exotischen Reizen gegenüber so aufgeschlossen war. In einer Droschke, deren Kutscher durch eines von Perditas Mädchen entlohnt werden würde, hatten sie das Ende des Konzerts abgewartet. Als die Leute aus dem von Fackeln angeleuchteten Opernhaus strömten, eine quirlige,
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