Wiegenlied Roman
Getränk in kleinen Schlucken, denn niemals würde sie so unachtsam sein, sich an etwas Heißem die Lippen zu verbrennen, und dachte weiter an die bittersüßen Momente des vergangenen Abends.
Umflutet vom enthusiasmierten Publikum, hatte sie mit Moritz auf ihren Vater und seine Begleiter gewartet, durch eine scheue Konversation stolpernd, ihre Blicke ausweichend und doch hilflos zueinanderfindend, keine Spur von Koketterie, wahrhaftig atemlos. Als das königliche Gefolge an ihnen vorbeischwemmte und die Aufmerksamkeit aller auf sich zog, vermeldete Elsas Intuition zuverlässig, dass sie mit Moritz von den entscheidenden Personen gesehen worden war.
Auf das Fehlen der Fürstin machte erst Hersilie beim Abendessen im Hotel de Rome mit lang anhaltenden Spekulationen aufmerksam. Allerdings wollte man vielmehr über Paganini sprechen, und Elsas Vater im Besonderen war daran interessiert, die Eindrücke des Moritz von Vredow zu hören,
den er eingeladen hatte, mit ihnen den Rest des so beeindruckenden Abends zu verbringen.
Wie sehr die beiden Männer auf Anhieb eine so offensichtliche Sympathie füreinander hegten, berührte Elsa merkwürdig, fast machte es ihr Angst. Wenn es Moritz nun ermunterte, bei Clemens um ihre Hand anzuhalten? Denn dass er noch immer den Wunsch hegte, sie zu seiner Frau zu machen, daran hatte der gestrige Abend nicht den geringsten Zweifel gelassen. Es war so leicht, in seiner Miene alles, was er fühlte, abzulesen, und sie bewunderte ihn dafür, dass er sich dessen nicht im Geringsten schämte.
Als Moritz sich verabschiedet hatte - er tat dies, noch bevor die Tafel sich endgültig auflöste, was sie jedem anderen als klugen Zug ausgelegt hätte, nur ihm nicht, der sich vermutlich nur davor schützen wollte, das Angebot, sie nach Hause zu geleiten, abgelehnt zu sehen -, als Moritz also ging, hatte Clemens ihm nachblickend zärtlich ihre Hand gedrückt, als wolle er seine Tochter beglückwünschen.
Glücklicherweise war ihm entgangen, dass Hersilie ihre neugierigen Augen nicht von Moritz hatte lassen können, während sie sich eine Menge Fragen zu stellen schien, die sie seitdem noch immer unbeantwortet mit sich herumschleppte. Sie musste sich einiges zurechtlegen, bis sie damit herausrücken würde.
Elsa betrachtete die Schokoladenschicht am Tassenboden und tastete nach dem Klingelzug. Sie hatte unbedingt Lust auf eine weitere Tasse heißen Kakaos.
Die Abwesenheit der Fürstin war dann in den Boudoirs des Hotel de Rome besprochen worden. Beim Pudern der Nasen hieß es, die junge Frau des Königs hatte es nach
einem Treffen in Paretz mit einer durchreisenden Freundin aus Dresden nicht übers Herz gebracht, sie unbegleitet ziehen zu lassen, als diese von einer plötzlichen Übelkeit befallen war, unter der sie mit den fürchterlichsten Affekten sehr zu leiden hatte. Aus erster, offenbar schnell sprudelnder Quelle wusste man, sie habe die geschwächte Freundin mit dem Wagen bis nach Wusterhausen begleitet, wo die Eltern der namentlich Unbekannten, bei der es sich dem Anschein nach um eine Baroness handelte, sie in Empfang nahmen. Der König sei über die eigenmächtige Entscheidung der Fürstin äußerst verstimmt gewesen. Nur der Liebreiz der Braut seines zweitgeborenen Sohnes, der Prinzessin aus Weimar, hatte ihn besänftigen können.
Unwillig sah Elsa auf, als sich unerwartet die Tür öffnete. Dieses Mal hatte Eveline nicht einmal angeklopft.
»Ihre Schwester, Demoiselle«, sagte sie.
Ihr betroffener Ton war nicht unbegründet, denn Helene, übernächtigt und vollkommen durchnässt mit schlammigen Säumen und Schuhen, wirkte verloren wie ein aus dem Nest gefallener Vogel.
Elsa sprang aus dem Bett. Sie schickte Eveline nach jeder Menge heißer Schokolade und Hoffmann’schen Tropfen. Ihre kleine Schwester stand herum wie eine Schneiderpuppe. Entschlossen drückte Elsa sie auf das Bett nieder, nahm ihr den tropfenden Hut ab, befreite sie aus dem nassen Mantel, den Schnürstiefeln, dem durch und durch klammen Kleid. Sie umhüllte sie mit dem Federbett und kramte nach gestrickten Socken. Während sie noch am Boden kniete und ihr die Strümpfe an die kalten Füße zog, löste sich Helenes Starre und wich einem stummen Tränenstrom.
»Finlay ist verheiratet«, sagte sie leise. »Seltsam, nicht? Dass ich ihn so gründlich missverstanden habe, hätte ich nicht gedacht.«
»Ich auch nicht.« Elsa war ehrlich überrascht. »Nie im Leben, nein, wirklich nicht. Er wirkte so ganz und gar …
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