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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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Finlay Gordon aus London«, sagte sie.
    Wie blass Finlay doch war.
    »Ich wollte mit Ihnen darüber sprechen«, sagte er.
    Helene lehnte den Brief zurück an die Bücher.
    »Ich glaube nicht, dass dies noch nötig ist«, entgegnete sie, und als sie an ihm vorbei zur Tür ging, stocksteif, ohne ihn anzublicken, hoffte sie von ganzem Herzen, dass er nicht bemerken würde, wie unendlich schwer es ihr fiel.

Zehn
    NOVEMBER WEITERHIN
    Schaudernd faltete Hersilie die Zeitung zusammen. Ihr war jeglicher Appetit vergangen. Der Anblick besonders der roten Konfitüren auf dem silbernen Frühstückstablett verursachte ihr Übelkeit. Sie fröstelte, obwohl sie den neu angeschafften gusseisernen Säulenofen, ein reich verziertes Stück auf Löwentatzen, unausgesetzt hatte befeuern lassen. Es störte sie nicht, wenn der Hausdiener selbst weit nach Mitternacht ihr Zimmer beschlich, um noch einmal Holz nachzulegen, denn ihr Schlaf war stets wie der einer Toten. (Die Klagen anderer Damen ihres Alters nahm sie immer mit einer gewissen Verständnislosigkeit zur Kenntnis.)
    Doch nach dem, was sie gerade in der Vossischen hatte lesen müssen, der sie an diesem Morgen ausnahmsweise den Vorzug vor der Schnellpost gegeben hatte, glaubte sie, nie wieder die Augen schließen zu können, ohne blutrünstige Bilder vor sich zu sehen.
    Hersilie schüttelte sich unter einem erneuten Schauder und klingelte nach Eveline. Wie war es nur möglich! Da ging eine Bestie von Mensch in den dunklen Winkeln Berlins herum und tat Frauen die grauenhaftesten Dinge an! Niemand hielt ihn auf! Die Polizei fand nichts und niemanden, das war nicht zu glauben! Dann verlieh man ihm auch noch diesen Namen wie eine Auszeichnung und nannte ihn den Engelmacher! Darauf konnten tatsächlich nur Männer kommen.

    Und doch waren es auch Männer, außergewöhnliche, ja sanfte Charaktere wie Professor Clemens Heuser, die sich mit den unberechenbaren Gesetzen von Leben und Tod in einer gänzlich anderen Weise befassten. Helfend und heilend, den Wissenschaften mit Haut und Haar verschrieben, sodass sie für die heiteren, genussvollen Seiten des menschlichen Daseins so beklagenswert wenig Zeit übrig hatten.
    Hersilie hielt inne, als sie bemerkte, dass sie damit begonnen hatte, das Frühstücksgeschirr zusammenzustellen. Sie war es einfach nicht gewohnt, ihre Gedanken in derart tiefgründige Gefilde abgleiten zu lassen. Nein wirklich, es ließ sie die seltsamsten Dinge tun. Vollkommen unverständlich war ihr, dass sich dieses irritierende Wesen Helene, Elsas Schwester, mit all jenen unappetitlichen Dingen bereitwillig konfrontierte. Wie konnte sich nur überhaupt ein Mensch aus freien Stücken diesen brutalen Berufen zuwenden? Obwohl, das sah selbst Hersilie in ihrem aufgewühlten Gemütszustand ein, es in der Tat fatal wäre, wenn nun niemand dies täte. Sie wollte sich wahrhaftig nicht vorstellen, was Helene Heuser davon abgehalten haben mochte, Paganinis Gastspiel zu verpassen. Ob sie womöglich eine dieser unglücklichen Frauen hatte sterben sehen?
    Die Uhr auf der Kommode zwischen den Fenstern schlug die elfte vormittägliche Stunde. Spitzer Regen schlug gegen die Scheiben. Erneut klingelte sie nach Eveline. Alles an diesem Morgen sprach dafür, schon jetzt so etwas wie einen Sherrypunsch zu trinken, damit ihre verkühlte Seele sich daran erwärmen könnte.
    Paganini und wie er sie alle mit seinem Spiel in den Grund gesegelt hatte, war für Hersilie momentan beinahe vergessen.
Allein das Wiedersehen mit Moritz von Vredow, diesem ganz und gar hinreißenden Menschen, flutete ihr romantisches Gemüt, eben als Eveline das Zimmer betrat, das Frühstückstablett entfernte und den Wunsch ihrer Brotherrin nach einem in Teilen geistigen Getränk entgegennahm, wobei sie es sich verkniff, mindestens eine, wenn nicht beide Brauen hochschnellen zu lassen und womöglich auch noch die Augen zu verdrehen. Hersilie erkannte dergleichen immer, gleichgültig ob man sie in Gedanken, schläfrig oder echauffiert wähnte.
    Nachdem das Mädchen gegangen war, angelte Hersilie mit dem linken ihrer dicklichen Puttenfüße unter dem Tisch nach dem entglittenen Seidenpantoffel.
    Sie seufzte.
    Dieser Mann. Wie er das Kind anbetete, wie er es vergötterte! Konnte das gutmachen, was sich ebenso unschicklich wie heimlich zwischen ihnen ereignete? Warum nur hatte er Elsa nicht längst die Ehe angetragen? Warum mussten sie in heimlichen Treffen mit ihrer zügellosen Leidenschaft zueinanderfinden? Warum setzte

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