Wiegenlied Roman
er sie der Gefahr aus, in Schande zu geraten? Sollte ihm tatsächlich zuzutrauen sein, dass er es ablehnte, unter seinem Stand zu heiraten? Beim Adel konnte man nie wissen, wie sehr sich seine komplizierten reglements im Einzelnen auswirken würden. Man brauchte sich nur zu erinnern, was dem zweitgeborenen Prinzen angetan worden war, der die Frau seines Herzens nicht hatte heiraten dürfen, Eliza Radziwill. Diese armen Menschen! Ganz Berlin hatte mit ihnen gelitten.
Hersilie stand auf und zog den samtenen Morgenmantel vor der Brust zusammen. Nach dem, was sie gestern beim Diner im Hotel de Rome beobachtet hatte, konnte es allerdings
auch an Elsa liegen, dass die Dinge so standen, wie sie lagen. Dass von einer Heirat keine Rede war, hatte seine Gründe möglicherweise auch in Elsas unbedingter Liebe zur Schauspielerei.
Ob sich das Kind darüber mit Malvine von Homberg überworfen hatte? Sosehr Hersilie es gefiel, die Stellung der Marburgerin als Vertraute einzunehmen, so brachte doch die ungewohnte Bürde der Verantwortung sie dazu, einige entscheidende Dinge gegeneinander abzuwägen. Vielleicht sollte sie dem Professor nahelegen, sein Augenmerk vermehrt auf die Geschicke seiner älteren Tochter zu legen, wobei sie ihm alle Unterstützung anbieten würde, die ihm mit dem Tod seiner lieben Frau abhandengekommen sein musste. Sie wich vor dem peitschenden Regen zurück, als könnte er durch das geschlossene Fenster dringen. Und ja, vermutlich musste sie so weit gehen, ihm zu raten, das Gespräch mit Moritz von Vredow zu suchen, bevor das Kind sich ins Unglück stürzen würde.
Elsa liebte es, bei gründlich schlechtem Wetter im Bett zu bleiben. Sie würde es noch mindestens eine Stunde behaglich haben, bevor sie ins Theater musste. Der Intendant stellte heute dem König den Spielplan vor und würde dem Ensemble das Ergebnis mitteilen. Sie erwartete große Neuigkeiten. Genüsslich schmiegte sie sich in die dicken Daunenkissen. Aufregung durchlief sie wohlig und wärmend, obwohl sie sich nicht so ganz zu erklären wusste, woher ihr Optimismus rührte. Sie sprach es einem sicheren Instinkt zu, den sie in den Theaterjahren entwickelt hatte.
Zunehmend hatte sie sich von den anderen Schauspielern absentiert. Ihre Stellung im Ensemble war seit ihrem Hosenrollen-Auftritt im Palais von bescheidener Prominenz. Seit sie mit Wilhelm Ludwig verbunden war, im Grunde jedoch bereits nach dem Verschwinden der kleinen Habermann, fühlte sie sich in einer gewissen Isolation von den anderen wohler, wenn es auch dazu führte, dass man ihr wohl inzwischen eine gewisse Borniertheit unterstellte. Und wenn schon. Die Stich, mit ihren derzeit überhandnehmenden Gastspielen an den vorzüglichsten Hoftheatern, zeichnete sich durch ebenso viel Talent wie Unbeliebtheit im Ensemble aus. Also wähnte Elsa sich in bester Gesellschaft, zumal die Stich ihr mit ihrer eifersüchtigen Attacke das überzeugendste aller möglichen Komplimente gemacht hatte.
Leise knackte das Holz im Ofen, und das Räucherpulver auf dem Ofenrohr verbreitete seinen freundlichen Duft nach Sandelholz, Zimt und Nelken. Die Vorboten des Winters empfand Elsa heute als überaus anregend. Sie dachte an den voluminösen schwarzen Pelz, in den man Paganini am Ende seines Konzerts nahezu versenkt hatte. Nach dem finalen Bogenstrich war der dünne Mann kraftlos auf einem Stuhl zusammengesunken, plötzlich und vollkommen verlassen von jeglichem Feuer.
Diesen Moment hatte Elsa genutzt, um ihrem Platz zu entfliehen, ohne die königliche Loge auch nur eines letzten Blickes zu würdigen. Wie sehr hatte es ihr davor gegraut, dem König und seiner Entourage beim Verlassen der Oper zusehen zu müssen. Und dann spielte das Schicksal ihr dieses aufwühlende Szenario zu, das sie sich besser nicht hätte ausdenken können.
Als das Publikum im Opernsaal in tosenden Jubel ausbrach und sich überrennend zur Bühne drängte - wobei Hersilies Kopfputz bei dieser Gelegenheit empfindlichen Schaden nahm -, stand sie, Elsa, längst bebend mit Moritz im Foyer, unendlich überrascht von der Wucht ihres Empfindens.
Ob es möglich war, zwei Männer zu lieben?
»Demoiselle?«
Eveline, die wie üblich das Zimmer gleichzeitig mit dem Klopfen betrat, deutete den verklärten Blick als klares Signal, Elsas Tagträume nicht zu stören, stellte das Tablett mit heißer Schokolade in Reichweite ab und verzichtete ihrerseits auf einen Knicks, bevor sie wortlos verschwand.
Genussvoll nahm Elsa ihr liebstes
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