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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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aufrichtig.«
    Sie hatte genauestens vor Augen, wie Finlay Helene während ihrer Unterhaltung in Hähnleins Salon angesehen hatte.
    Aufmerksam, interessiert, so unendlich erfreut.
    »Er war begeistert von dir«, sagte Elsa.
    Das herzzerreißende Schluchzen ihrer Schwester ließ sie ihren eigenen, diffusen Schmerz fühlen.
    »Und ich war begeistert von ihm«, flüsterte Helene. »Ich fühlte mich frei in seiner Gegenwart - kannst du verstehen, was ich meine? Ich glaubte wahrhaftig, ich sei einem Menschen, ja erstaunlicherweise einem Mann begegnet, der zu mir passt, dem ich mich nicht erklären muss, der mich sieht, wie ich bin, und der mich nicht würde ändern wollen.«
    Elsa fühlte sich plötzlich selbst ganz verweint. Niemals hätte sie erwartet, dass ihre Schwester ausgerechnet in Herzensdingen die richtigen Worte für sie beide finden würde. Sie setzte sich neben Helene aufs Bett, zog sie an sich, strich ihr die Haare aus dem erhitzten Gesicht und umfasste ihren Nacken, wie sie es einmal bei einer Mutter beobachtet hatte, die ihr Kind tröstete.
    »Ich habe wohl nur gesehen, was ich sehen wollte«, sagte Helene.
    »Jetzt fühlst du wieder mit dem Kopf und denkst mit dem Herzen«, sagte Elsa, während Eveline mit dem Kakao ins Zimmer huschte. »Aber damit wirst du der Sache nicht auf den Grund kommen, kleine Schwester.«

    Erst als das Mädchen gegangen war, sagte Elsa: »Erzähl mir genau, was passiert ist.«
    Helene ließ sich die heiße Schokolade einflößen und erzählte von ihrer seltsam kurzen Begegnung mit Finlay in einem Berliner Gasthof, bis sie sich schließlich neben Elsa zusammenrollte, die ihr eine weitere Decke überlegte.
    Tatsächlich waren Elsa bestimmte vage Details in Helenes lückenhaftem Bericht nicht aufgefallen. Während sie ihrer Schwester zuhörte, hatten sich schon längst eine Menge anderer Gedanken selbstständig gemacht. Diese ominöse Freundin der Fürstin aus Dresden … die offenbar unangekündigte und damit außergewöhnliche Stippvisite jener Frau in Paretz … diese plötzliche, so dramatische Indisponiertheit, die nicht zuließ, dass sie alleine weiterreiste … Warum hatte sie sich nicht auf dem königlichen Landsitz auskurieren können? Klang das nicht alles nach einer nur leidlich gelungenen Inszenierung? Ob dies nicht doch bedeuten könnte, was ihr schon einmal wie ein Kugelblitz durch den Kopf, ja nahezu durch ihr Innerstes geschossen war?
    Ob es die Fürstin selbst war, die Hilfe benötigt hatte? Aber nein, ein solcher Verdacht war zu ungeheuerlich! Und müsste, wenn es sich doch so verhielte, nicht ihre Hofdame davon wissen? Fräulein von Helmer, so viel war sicher, würde selbst unter Folter schweigen. Doch was war mit der Zofe?
    Elsa biss sich auf die Unterlippe, um ihre fieberhaften Gedanken nicht laut werden zu lassen. Sie könnte dem Mädchen ein Theaterbillett zukommen lassen, das die Einladung zu einem Besuch in ihrer Garderobe einschloss. Eine gute
Idee. Sie würde den freundlichen Camerier Timm zurate ziehen, wie sie dem Mädchen eine Freude machen könnte, ohne jemanden zu düpieren.
    »Du hast Finlay in seinem Gasthof aufgesucht. Mitten in der Nacht.« Elsa flüsterte jetzt. »Ich schließe daraus, dass mit unserer unbekannten Freundin geschehen ist, was geschehen musste?«
    »Es ist ein Junge«, sagte Helene schläfrig. »Du könntest dir einen Namen ausdenken.«
    Wie wäre es mit Wilhelm Ludwig?, dachte Elsa, doch es gelang ihr gerade noch, sich zu beherrschen.
    Als Helene in ihren Armen noch ein letztes Mal zusammenzuckte, bevor der Schlaf sie umfing, kam ihr unerwartet die schwarze Frau aus dem Hotel de Rome in Erinnerung, mit einer verstörenden Heftigkeit, als stünde sie wahrhaftig im Zimmer. Die gewaltige Rüschenfülle ihres violetten Kleides hatte Elsa beinahe gestreift, als sie ihr auf dem Weg zum Boudoir zwischen den Tischen entgegenkam. Sie hatte der Afrikanerin einen halben Schritt ausweichen müssen, nicht etwa umgekehrt, und sie hatte sich zwingen müssen, sie nicht anzustarren. Und doch waren ihre einige exotische Details im Gedächtnis geblieben, das krause, mit Bändern in ein aberwitziges Geflecht getürmte Haar, der Schimmer ihrer fast schwarzen Haut, auf der die zierliche Goldkette mit dem winzigen Kreuzanhänger beeindruckender wirkte als jedes noch so glitzernde Geschmeide am Hals einer anderen Frau.
    Elsa hatte die Afrikanerin mit einem Lächeln passieren lassen, um keinesfalls provinziell zu wirken. Und da hatte sie diesen Satz

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