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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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werden. Eigentlich steht sie immerzu mit einem Bein im Zuchthaus oder im Grab.«
    Er wandte ihr sein zerfurchtes Gesicht zu. Die Augenklappe war ein Mahnmal seines andauernden Zorns.
    »Was also, Fräulein Heuser, sollte diese Frauen noch schrecken? Am ehesten ein Kind, das ihnen nichts als ein Klotz am Bein ist. Weil es ihnen das Geschäft verdirbt, mit dem sie sich verdammt noch mal selbst durchzubringen haben.«
    Sie erreichten die Straße. Mit dem Kopf deutete Blunck zum Gebäude der Charité, über dem sich steingraue Wolken türmten.
    »Müssen Sie nicht Ihren Dienst antreten?«
    Sein Blick war jetzt beinahe freundlich.
    Helene schüttelte den Kopf. Sie konnte ihn nicht länger ansehen, so heftig war der Drang, ihm alles bis ins Letzte
anzuvertrauen. Sie hatte nicht die geringste Angst davor, dass er sie missverstehen könnte.
    »Ich höre mich um, Heuser, glauben Sie mir«, sagte er leise. »Bislang bin ich auf zwei Frauen getroffen, die das Ganze überlebt haben, sie ließen sich von mir behandeln, weil ich sie nicht gezwungen habe zu reden, womit ich gegen eine verdammte Reihe von Paragrafen verstoßen habe. Sie wissen so gut wie ich, welche Strafen auf Abort und Kindsmord stehen. Ich vermute, es gibt noch mehr heimliche Überlebende, an denen dieser Mann mit mehr Sorgfalt oder einfach nur ungestörter vorgehen konnte.«
    Der Gedanke an Elsa jagte Helene den Puls hoch.
    »Man müsste ihn in flagranti erwischen«, sagte sie.
    »Wir haben nicht die geringste Ahnung, wie der Mann aussieht, geschweige denn eine Idee von den Orten, wo er seine Traktionen vornimmt. Irgendetwas muss geschehen, damit nur eine der Frauen redet. Wenn ich nur wüsste, was.«
    Grußlos wie immer ging er davon. Der Wind griff unter die Schöße seines Mantels. Blunck sah aus wie ein großer Rabe, der jeden Moment in den Himmel stoßen würde.

    Frido,
    kann sein, es ist ein feler ein Groskotz wie dir zu vertraun, aber vile Möglichkeitn hab ich nich. Was die Negerin jesagt hat ist war jeworden mit den zwei Kindern, nur eins is nich von mir, mehr will ich dazu nich sagen, aber Zelestin will ich was fragen und dich will ich bitten sie hirher zu mein kleines Haus zu
bringen. Jetzt sieh zu, was du machn willst weil ich dir nemlich nichts vasprechn werd.
    Kann sein, ich bin bocksdemlich aber fileicht ebn auch nich.
    Sidonie

    In einer Nottaufe am Tag nach seiner Geburt hatten sie dem kleinen Jungen den russischen Namen Petja gegeben. »An der Königsmauer begegnet man der halben Welt«, hatte Sidonie gesagt, deshalb kannte sie viele exotische Namen. Beruhigend war, dass er die Brust nahm, verlässlich gut trank und nichts erbrach.
    Helene hatte kaum Zeit gefunden, nach Sidonie und den Kindern zu sehen, zumal sie die Wege immer zu Fuß zurücklegen musste. Genau genommen, und das wurde ihr mit einem gewissen Schrecken klar, während sie eilig die geräuschvolle Abteilung der Irren passierte, war sie erst zweimal wieder am Mühlenberg gewesen. Doch nun schien das Kindbettfieber in der Charité gebannt. Nachdem von vierundzwanzig Erkrankten siebzehn gestorben waren, der Rest geheilt und bei vieren die Entstehung der Krankheit verhindert werden konnte, kam die herbstliche Epidemie des Jahres 1828 zu einem Ende. Studenten wie Hebammenschülerinnen waren wieder zum klinischen Unterricht zugelassen, und auch Helene hatte in diesen Tagen wieder damit begonnen, die privaten Kurse bei ihren Lehrern aufzunehmen.
    Sie hoffte und glaubte doch sicher, dass Sidonie befolgen würde, was sie ihr in großer Kinderschrift zu Papier gebracht hatte.

    »Mir ist verdammich schauderös wegen der Verantwortlichkeiten«, hatte Sidonie gemurmelt, während sie mit dem Zeigefinger unter den Zeilen entlanggefahren war. »Wenn er mir nun unter den Händen wegstirbt, der Kleine, nie könnte ich mir das verzeihen.«
    Ihr Blick war zur Leintuchschaukel und dann zur Wiege gewandert. Beide Kinder hatten ausnahmsweise gleichzeitig geschlafen.
    »Und seine Mutter auch nicht, würde ich wetten.«
    »Du machst dir zu viele Sorgen«, sagte Helene. »Die Verantwortung liegt allein bei mir.« Sie dachte an Blunck. Ihr fiel auf, dass sie sich wiederholte.
    »Und der Zufall ist’ne Kellerklappe.«
    Es war dies eine von Sidonies seltsamen Äußerungen, die sie zu bemerkenswerten Zeitpunkten von sich zu geben wusste, was Helene der Tatsache zuschrieb, dass ihre Wahrnehmung durch gewisse Rauheiten des Lebens ausnehmend gut geschult war.
    Hoffentlich würde der Nabel des Jungen mithilfe

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