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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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gesagt: »Es ist kein Zufall, dass wir uns begegnen, ma sœur .«

    Sie versuchte sich ihrer Wahrnehmung dieser Begebenheit genau zu erinnern. Hätte die dunkle Melodie der Stimme sie beunruhigen müssen?
    Elsa ließ sich neben Helene in die Kissen fallen. Ihrer Frage beschied sie ein entschiedenes Nein.

    Die Welten, in die er sich zunehmend begab, waren sehr fremde. Es kam ihm vor, als hätte die Erinnerung an Sophie Lange und das tote Reh auf der Lichtung ihm unversehens eine kleine, versteckte Tür zum Paradies aufgestoßen, die er nur mithilfe des Laudanums wiederfinden konnte.
    Und er wollte sie so gern wiederfinden, jeden Tag. In erstaunlich farbigen Gemälden, die sich aus Erinnerungen wie fliegende Wolken an einem windigen Himmel zusammenfügten, begegnete er allem, was ihn jemals erfreut, verängstigt und glücklich gemacht hatte. Luise, seine Königin, glitt beinahe beiläufig durch die Kulissen seiner Fantasie. Stets schien sie heiter und dabei so unendlich milde, dass es auf ihn übergriff und ihn erstaunlich weich stimmte. Zuweilen konnte ihm alles gleichgültig sein. Dann schien seine Seele aufzuatmen, wie von einer schweren Last befreit.
    Wenn sein Gemüt derart leicht war, dann glaubte er selbst daran, sich aus reinem Zufall im Schwibbogen aufzuhalten. Mit den Händen auf dem Rücken, da er den Stock derzeit kaum mehr benötigte, schritt er die Bibliothek des Königs ab, wobei er zuweilen den Kopf neigte, um die goldgeprägten Namen bedeutender Männer auf den ledernen Buchrücken zu entziffern.

    Fast freute es ihn, als er aufsah und Fräulein von Helmer kommen sah. Sie trug Mantel und Hut. Vor ihrer ranken Körpermitte schwang ein weißer Pelzmuff im Takt ihrer eiligen Schritte. Wie eine winterliche Elfe schwebte sie ihm entgegen, leider auch an ihm vorbei, freundlich, sehr freundlich grüßend, mit einem heute so unschuldigen Lächeln.
    Warum wählte sie den Umweg über das königliche Palais, wenn sie in äußeren Angelegenheiten unterwegs war? Das Laudanum machte es ihm leicht, ihr in einem angemessenen Abstand zu folgen.
    Leichtfüßig lief er dem Fräulein hinterher, über die Gänge und Treppen, an den Wachen vorbei, hinaus auf die Straße. Er brauchte keinen Mantel. Er spürte weder Kälte noch Regen, während er ihr unter den kahlen Linden nachging, er spürte auch die Blicke der Flaneure nicht. Er sah nur Fräulein von Helmers zierliche Gestalt von hinten, ihren anmutig ausschreitenden Gang, so zielstrebig.
    Gemeinsam mit ihr überquerte er den Gendarmenmarkt. Sie wollte bei Tage zum Schauspielhaus. Sie betrat es durch den Eingang der Theaterarbeiter auf der Seite zur Französischen Kirche. Zu schnell plötzlich. Er fand die Tür verschlossen.
    Und da war es wieder. Das Schwarze. Das Böse.
    Es konnte sich immer Raum verschaffen.
    Hässlich wie eine Schlange, die ihren schuppigen Schädel hob, erwachte die tiefste seiner Überzeugungen zu neuem Leben. Sein Herz geriet mit einem Schlag in Erregung. Jede Tat, jeder Weg, das gänzliche Dasein Fräulein von Helmers diente allein einer einzigen Person. Die Kreatur befand sich in Paretz. Seine Hände zitterten. Wieso dachte er erst jetzt daran? Von Helmer überbrachte in Berlin weiter ihre Nachrichten.

    Er stand unter Spannung wie der Schnapphahn einer geladenen Pistole. Sein verhasster Körper strafte ihn schlagartig mit Schmerz. Er hatte den Stock nicht bei sich, musste an den Mauern des Schauspielhauses Halt suchen, um sich davonzumachen, Schritt für Schritt.
    Er fror. Er war wieder ganz der Alte.
    Er würde sie töten. Gleichgültig, ob es ihm gelingen sollte, die Wahrheit über sie herauszufinden. Auch wenn er sie damit unsterblich machte.

    Das achte Opfer des Engelmachers, eine zweiundzwanzigjährige Putzmacherin, bei deren Dienstherrin die Huren der Krausenstraße zur Kundschaft gehörten, hieß Odette Rehfeld. Das siebente, eine Prostituierte aus der Umgebung des Petri-Platzes, war in der Poliklinik der Königlichen Universität gestorben. Der junge Siebold hatte die Kollegen in der Charité umgehend darüber in Kenntnis gesetzt.
    Der Mann, über dessen Taten sich inzwischen die ganze Stadt erregte, zog jetzt größere Kreise und mied die Königsmauer, trotzdem musste man sich wundern, dass er noch immer Opfer fand.
    Blunck hatte sich, informiert durch die Polizeibehörde, auserbeten, bei der Obduktion Odette Rehfelds anwesend zu sein. Er hatte neben dem Anatomiediener, vor allem jedoch an der Seite Professor Heusers, Stellung bezogen

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