Wiegenlied Roman
und warf Helene, die ihm gegenüber neben Novak und Hähnlein stand, einen nachdenklichen Blick zu, dem sie ratlos standhielt.
Dem Beispiel des Anatomiedieners folgend, trugen sie alle - bis auf Blunck, der es abgelehnt hatte - Leintücher über
Mund und Nase gebunden, die zuvor auf Anraten des Apothekers Klemm mit Rosmarinöl beträufelt worden waren. In Anbetracht der allgemein bekannten Tatsache, dass die Sektionsgehilfen des Anatomischen Theaters wegen des unerträglichen Leichengeruchs fortwährend betrunken zu Werke gingen, lobte man den Einfallsreichtum des eigenen Kandidaten. Seine Erfindung empfahl sich besonders, da die Leiche der armen Odette erst zahlreiche Tage nach ihrem einsamen Tod gefunden worden war. Die ungeheizte Schlafkammer ihrer Unterkunft hatte sie in der Novemberkälte leidlich konserviert, bis ihre Lohnherrin, aufgebracht wegen all der unvollendeten Hüte, nach ihr suchen ließ. Inzwischen war nahezu alles an Odette in Fäulnis übergegangen.
Der Anatomiediener, seit Kurzem in den Stand eines Prosektors gesetzt, was ihn ermächtigte, die Leichen ohne Aufsicht für die Sektion vorzubereiten, hatte wie gewohnt gute Arbeit geleistet. Um den Ärzten eine möglichst reine Sicht auf das entscheidende Detail zu verschaffen, hatte er mit vollkommenster Akribie den Darm und die für heute unwesentlichen Beckenorgane entnommen. Von Bindegewebe und Muskelresten gesäubert, warteten sie auf eine weitere Präparation, möglicherweise mit Rosshaar und Werg, denn hinsichtlich dessen, was ihnen bei den Leichenöffnungen der Kindbettfiebertoten unter die Augen gekommen war, hatten die Gelehrten eine vergleichende Demonstration von Fäulnisprozessen in Betracht gezogen.
Clemens, der die Beförderung des talentierten Mannes empfohlen hatte, verließ sich blind auf ihn, und dies ermöglichte dem Schicksal, die Bühne zu betreten - falls man so bezeichnen wollte, was im Folgenden vor aller Augen und doch unbeobachtet vor sich ging. Das Skalpell, nach dem
Clemens griff, ohne aufzusehen, lag verkehrt herum, sodass er den haarfeinen Schnitt im Mittelfinger seiner rechten Hand nicht bemerkte. Ebenso wenig taten es die anderen, die ihre Blicke auf den malträtierten Uterus Odette Rehfelds gerichtet hatten.
Auch Helene war nicht das Geringste aufgefallen, denn sie war damit beschäftigt, Bluncks Mienenspiel zu beobachten. Die Wut in seinem hageren Gesicht bestärkte sie in ihrem Vorhaben, das Gespräch mit ihm zu suchen, auch wenn sie nicht die geringste Ahnung hatte, wohin es führen sollte. Es war so viel, von dem sie sich ablenken wollte. An Finlay zu denken verbot sie sich schon im leisesten Anflug, wobei ihr zugutekam, dass sie ein disziplinierter Mensch war.
Vor allen anderen verließ sie das Totenhaus und wartete bei den Brunnen, bis sie Blunck in seinem unvergleichlich voranstürzenden Gang über den Hof eilen sah. Stets wirkte der Forensiker, als wolle er die Gesellschaft seiner Mitmenschen fliehen, den Blick zu Boden gerichtet, während eine steile Falte zwischen den Brauen signalisierte, dass er in seinen düsteren Gedanken keinesfalls gestört werden wollte.
Trotzdem blieb er stehen, als sie ihm entgegentrat.
»Was gibt’s, Heuser?«, sagte er. »Ich höre, Sie haben eine unserer Freundinnen der Öffentlichkeit entzogen.«
»Sie ist als Amme verdingt, es geht ihr gut.«
»Gefallen Sie sich nicht zu sehr darin, eine edle Tat vollbracht zu haben.«
»Ich weiß um meine Verpflichtung.«
»Das glaube ich Ihnen sogar.«
Er war schon wieder auf dem Sprung, lief los, schnell, mit langen Schritten. Sie blieb an seiner Seite, während die kalte Luft in ihre Lungen stach.
»Erfahren Sie etwas von den Frauen an der Königsmauer?«, fragte sie atemlos. »Erzählen sie Ihnen etwas? Warum warnen sie einander nicht vor diesem Menschen? Warum liefert sich ihm eine nach der anderen aus? Sie müssen doch wissen, welches Risiko sie eingehen.«
»Jeder Tag im Leben einer Prostituierten ist ein verdammtes Risiko, Heuser.«
»Ich weiß.«
Blunck gab ein seltsames Geräusch von sich. Er lachte.
»Nein, Heuser, das wissen Sie nicht. Eine Hure setzt sich täglich der Gefahr aus, an einen brutalen Freier, die Syphilis oder andere venerische Krankheiten zu geraten. Sie riskiert, von der Polizei-Patrouille aufgegriffen zu werden, weil sie ihr Gewerbe, eine Ansteckung oder ihre Schwangerschaft nicht gemeldet hat. Sie kann jederzeit von einem Luden windelweich geprügelt, vergewaltigt und um ihren Lohn gebracht
Weitere Kostenlose Bücher