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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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hinzulegen.
    Selbst durch das wollene Kleid hindurch ertastete sie eine außerordentlich harte Geschwulst neben der linken Leiste.
    »Verspüren Sie Schmerzen?«, fragte Helene und weiter, ob sie das Kleid zurückschlagen dürfe, um sich unter Rosalies Hemd und Hosen dessen zu versichern, was ihre Hände festgestellt hatten.
    »Immer.«
    Versonnen hatte Rosalie eine Wachskugel mit spitzen Stacheln im Blick, die gewalttätig wie ein Morgenstern aussah und sich das Bord mit der roten Kröte teilte.
    »Es waren Kindsregungen, dafür lege ich mehr als nur meine Hand ins Feuer«, sagte sie. »Über Jahre ging das so. Mein Sohn war ein erwachsener Mann und bereits Apotheker,
bis ich eines Tages wusste, dass es den Kampf aufgegeben hatte.«
    Nur ein einziges Mal habe er ihr drohen müssen, dass er sie zu den Irren sperren lassen würde, wenn sie ihre absonderliche Geschichte jemals einem Fremden zu Ohren brächte. Seitdem habe sie nie mehr ein Wort darüber verloren.
    Rosalie richtete sich auf. Sie schwang ihre Beine über den Rand des Feldbettes, die, wie immer, wenn sie saß, kaum den Boden berührten.
    »Sie glauben mir doch?«
    »Ich muss darüber nachdenken«, sagte Helene.
     
    »Es mag absonderlich klingen, ist es aber nicht.«
    Ihren Vater fand Helene bleich und mit schweißnassen Schläfen an seinem Arbeitstisch vor. Zunächst dachte sie, dass es seine Bewandtnis in der ungeheuerlichen Hitze hatte, die von dem Kanonenofen im Zimmer ausging.
    »Ich weiß von solchen Fällen«, sagte Clemens, und er bat sie, ihm von der Abkochung zu geben, die in einem Krug auf dem Rechaud stand. Seine Hand, mit der er ihr den Becher hinhielt, zitterte und war verbunden.
    »Was hast du da?«, fragte sie.
    Er schüttelte den Kopf, als wollte er eine Fliege verscheuchen.
    »Ein Lithopaedion «, sagte er. »Es könnte sich um ein Steinkind handeln.«
    Er musste die Linke hinzunehmen, bevor es ihm gelang, einen Schluck zu trinken.
    »Der erste beschriebene Fall stammt aus dem Jahr 1582«, sagte er, und Helene fiel auf seinem Handrücken eine dünne schwarze Linie auf, so als wäre er mit der Schreibfeder unter
den Verband gefahren. »Das Steinkind von Sens wurde bei der Sektion einer achtundsechzigjährigen Frau gefunden. Sie war zwanzig, als sie alle Zeichen einer Schwangerschaft zeigte. Die Wehen stellten sich zur gehörigen Zeit ein, die Wasser flossen ab. Allein auf das Erscheinen des Kindes wartete man vergeblich. Nichts geschah. Die Wehen setzten aus, die Milch versiegte in den Brüsten. Der Frau ging es schlecht, drei Jahre hat sie das Bett nicht verlassen. Bis zum Ende ihres Lebens klagte sie über Störungen ihrer Verdauung, Leibschmerzen und eine harte Geschwulst im Unterleib.« Er zog sein Schnupftuch aus der Rocktasche und tupfte sich den Schweiß von Stirn und Schläfen. »Du musst in der Bibliothek nach Literatur suchen. Die interessanteste Abhandlung ist unstreitig die von Thomas Bartholinus.«
    Neben dem Journal der Geburtshilfe, in dem er gelesen hatte, stand ein Arzneifläschchen aus dunkel gefärbtem Glas. Dass es Quecksilber enthielt, erkannte Helene an einem einzigen winzigen Tropfen auf dem dunklen Holz des Tisches.
    »Wenn es wahr wäre!«, sagte Clemens. »Wenn du die Möglichkeit hättest, daran zu forschen! Ist dir klar, was das bedeutet?«
    Behutsam stellte er den Becher ab.
    »Du musst alles ernst nehmen, was diese Frau dir anvertraut. Alles ist von Bedeutung. Wenn dir an manchen Details Zweifel kommen, wenn etwas zu fantastisch klingt, protokolliere es trotzdem, nimm es auf in deine Betrachtungen.«
    »Nimmst du selbst das ein, Vater?«, fragte sie.
    Er reckte das Kinn vor, zog einen Bogen Papier heran und tauchte die Feder ins Tintenfass.

    »Fürs Erste eine Liste aus meinem lückenhaften Gedächtnis«, sagte er. »Sieh zu, was du bekommen kannst. Morgen, vielleicht übermorgen, werde ich wissen, was fehlt.«
    Sie wagte es nicht, so weit zu gehen, die Temperatur seiner Stirn zu fühlen oder einfach nach seinem Handgelenk zu greifen, um die Pulsschläge zu zählen. Seine Würde war unantastbar, selbst für sie.
    Von ihrem Vorschlag, dass Hähnlein ihn visitieren könnte, wollte er rein gar nichts wissen.
    Später sollte es für Helene Zeiten des Zweifels geben, ob ihr Vater es womöglich hatte drauf ankommen lassen, doch an jenem Morgen als sie Clemens allein zurückließ, so wie er es ausdrücklich wünschte, wich ihre Beunruhigung zügig einer anderen.
    Auf den Gängen der Gebärabteilung kam ihr prompt

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