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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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des Eibischwassers gut abheilen. Sidonie vermochte die Kompressen eigenständig zu wechseln, seit Helene sie es bei der kleinen Nelly hatte verrichten lassen. Gegen die anhaltend kränkliche Blässe des Kindes würde sie ihr Kräuter für aromatische Bäder bringen, reines Magnesia konnte nicht schaden und Calomel, von dem das feingliedrige Geschöpf morgens und abends ein Gran erhalten sollte.
     
    Rosalie Klemm war allein in der Apotheke, doch als Helene dies bemerkte, war es zu spät, und zunächst schien es, als würde sie nicht wieder anfangen von ihrer Sache.

    Während sie die getrockneten Kräuter mischte, plauderte Rosalie über das Wetter, beim Abwiegen des Calomels berichtete sie von einer neuen Methode, die Irren mit Eisbädern zu behandeln, wispernd, als sei es ein Geheimnis, von dem außer ihr und den Ärzten niemand wusste.
    Doch kaum schickte Helene sich an zu gehen, kam sie wie eine kleine, zweifellos harmlose Spinne hinter dem Verkaufstisch hervorgeschossen. Sie hielt Helene am Rock fest, um sie nicht entwischen zu lassen.
    »Weichen Sie mir nicht länger aus, Kindchen. Ich will eine Visitation. Ich will nicht, dass wir in diesem ungeklärten Zustand unter die Erde kommen.«
    »Aber davon kann doch keine Rede sein.«
    »Oh doch, meine Kleine. Ich bin alt. Es kann mich jederzeit erwischen. Bei den Witterungen, dem Fieber allüberall, Kindbett, kaltes oder hitziges, Typhus und Halsbräune. Schließlich lebe ich nicht unter einer Käseglocke, sondern in der Charité.«
    »Ich verspreche gern, Sie zu untersuchen«, sagte Helene. »Nur kann ich Ihnen heute nicht mit Sicherheit sagen, wann.«
    Rosalie wandte sich um, zog das Rezeptbuch heran und hatte die Feder zur Hand.
    »Sie vergaßen zu unterschreiben.«
    Zufrieden sah sie Helene zögern. Jeder, der eine Medizin abholte, hatte dies zu quittieren. In ihrer Not war Rosalie doch eine tückische kleine Person.
    »Heute und jetzt«, sagte sie. »Verzeihen Sie mir meine Beharrlichkeit, aber ich habe das Warten sehr satt.«
    »Wo ist Ihr Sohn?«, fragte Helene hilflos.

    »Im Laboratorium.« Rosalie holte eine Tischglocke unter dem Verkaufstisch hervor und platzierte sie unübersehbar. »Darauf hört er verlässlich«, sagte sie. »Niemand wird uns stören.«
     
    Es war ein wunderliches Zimmerchen. An den Wänden stapelten sich Schachteln, Körbe und Kisten bis zur Decke. Die Gerüche von Harzen, Hölzern, trockenen Pflanzen und Tierhäuten möglicherweise gingen eine bemerkenswerte Verbindung mit dem Staub ein, der sich überall fing, nicht einmal unangenehm, doch es schien Helene, als mache die stickige Luft sie schläfrig.
    Am Ende der Kammer, unterhalb eines schmalen Fensters mit verschossenen Leinenvorhängen, stand ein ordentlich gemachtes Feldbett. Die erstaunlichsten Dinge befanden sich an der Wand neben der bescheidenen Schlafstelle. Es waren nicht allein Votivgaben, wie Helene sie in Kirchen oder unter den Kopfkissen von Gebärenden gesehen hatte, etwa das aus Wachs geformte Wickelkindchen oder die wächserne rote Kröte als Hoffnung spendendes Symbol der Gebärmutter. Vielmehr lagerten auf den schmalen Borden, in wilder Ordnung über dem Bett angebracht, ein silbern gefasster Korallenlutscher, der dem zahnenden Kind Linderung versprechen sollte, eine Rassel aus Bergkristall und ein in die Jahre gekommenes Trinkfläschchen aus Zinn. Blutstein-Amulette hingen in der Gesellschaft von Wachsreliefen an der Wand, die Föten in den unterschiedlichsten Stadien ihres Wachstums darstellten und die man gemeinhin für den anatomischen Unterricht verwendete. Unter dem Bett stand Nachtgeschirr.
    »Ich kann nicht glauben, dass Sie hier wirklich wohnen«, sagte Helene.

    »Mein Sohn und ich entschieden uns im Laufe der Jahre dafür, einander nicht weiter auf die Nerven zu gehen, sonst hätte es womöglich Tote gegeben. Ihm die Wohnung in Spandau zu überlassen war die beste Lösung. Und im Übrigen sollten Sie mir alles glauben, mein Kind.«
    Mit dem Rücken zum Fenster sah Rosalie zu ihr auf.
    »Ob ich nun liegen oder stehen soll bei dem, was Sie tun, müssen Sie mir sagen.«
    Um der Wahrheit die Ehre zu geben, Helene wusste es selbst nicht, oder genauer gesagt, sie wusste es nicht zu entscheiden.
    Untersuchte sie den Fall einer Art ruhenden Schwangerschaft? Bei einer weit über siebzigjährigen Frau?
    Kamen die üblichen Methoden des Zufühlens infrage, bei denen sie die Geburtsorgane innerlich zu ertasten hatte?
    Ausgeschlossen.
    Helene bat Rosalie, sich

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