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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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gab genügend Anhänger der Meinung, dass beliebiges Lesen für Frauen schädlich war. Ob sie so jemanden zum Mann hatte?
    Der Opernplatz lag längst hinter ihnen, und der Tiergarten, mitsamt seinen Kaffeezelten, von denen Finlay eines hatte aufsuchen wollen, entfernte sich stetig. Hätte sich nicht ereignet, was er später als Glücksfall bezeichnen würde, wäre er an der Spreebrücke, hinter der zwischen eng stehenden Häusern zwei alte Kirchen aufragten, womöglich umgekehrt, denn was er tat, kam ihm inzwischen zunehmend absurd vor.
    Während Finlay den Kopf in den Nacken legte und zur schiefernen Turmspitze der größeren von beiden Kirchen hinaufsah, entstand ein plötzlicher Tumult am gegenüberliegenden Ufer. Vor einem Haus, an dem ein Schild mit einem grünen Hecht schaukelnd in Bewegung geriet, waren einige junge Männer mit den Fäusten aufeinander losgegangen. Immer mehr Rauflustige drängten aus der Tür des kleinen Wirtshauses auf die Gasse, junge Herren in schwarzen Gehröcken und in Uniformen. Sie beschimpften einander in verbissener
Wut, während ihnen in wildestem Getümmel die Hüte von den Köpfen flogen.
    Die junge Frau war spurlos verschwunden. Finlay rannte über die Brücke, da traf ihn ein Faustschlag an der Schulter. Kurz empfand er heftigen Zorn, doch dann sah er das blitzende Blau ihres Kleides am Ende der Gasse aufleuchten.
    »Gestatten Sie mir, Sie zu begleiten«, sagte er, als er sie atemlos erreichte. »Mir scheint, hier ist es nicht sehr sicher.«
    Ihre Augen hatten die Farbe eines kühlen Himmels, und sie dachte nicht daran, den Blick zu senken oder Ähnliches, was es ihm ermöglicht hätte, sich weniger durchschaubar zu fühlen.
    »Es ist nur ein Streit unter Studenten«, sagte sie mit ihrer sehr schönen Stimme. »Medizinstudenten der Universität gegen angehende Militärärzte. Sie können einander nicht leiden, wie man sieht. Und ich habe es nicht mehr weit.«
    »Ach, warum?«, fragte Finlay. »Ich meine, was bringt die Herren so auf, dass sie sich auf offener Straße prügeln?«
    »Sie neiden einander den praktischen Unterricht an der Charité«, sagte sie.
    Er nahm an, da sie ihren Weg fortsetzte und im Gehen weitersprach, konnte sie nichts dagegen haben, dass er sie begleitete.
    »Sie kennen die Charité, das größte Hospital Berlins? Es war einmal ausschließlich zur Ausbildung von Militärärzten und Hebammen gedacht, aber seit Bestehen der Universität absolvieren dort auch die anderen Studenten ihre praktischen Studien, sofern es nicht schon eigene Institute gibt.«
    »Sie sind außerordentlich gut im Bilde«, sagte Finlay und dachte, dass sie sich keinesfalls mit dem Lesen romantischer Romane aufzuhalten schien.

    »Verzeihen Sie, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe«, sagte er, nannte ihr seinen Namen und lüftete im Gehen den Hut.
    »Sie sprechen unsere Sprache sehr gut.« Ihr lockiges, beinahe krauses Haar kam unter dem Schutenhut hervor, als wäre es kurz geschnitten. »Sie sind Engländer?«
    »Schotte, um genau zu sein. Ich habe ein Jahr in Göttingen studiert. Mein Deutsch ist alles andere als gut, aber danke, dass Sie mich loben.«
    Sie war offenbar schon wieder in Gedanken. Ihre Brauen fanden in einer beinahe durchgehenden Linie zusammen.
    Inzwischen waren sie in eine weitere Gasse eingebogen, und Finlay kam es vor, als durchwanderte er mit der fremden, jungen Frau ein lange vergangenes Jahrhundert. Das Viertel diesseits der Spree schien eines der ältesten Berlins zu sein. Die Gerüche hier waren ländlich, so wie er es aus manchen Teilen Aberdeens kannte.
    Er schwieg unentschlossen, derweil sie auf die zweite der Kirchen zuliefen, deren Giebelwand von zwei hölzernen Türmen eingefasst war. Als sie vor einem Haus mit blauen Läden stehen blieb, hätte er gern nach ihrem Namen gefragt, ohne aufdringlich zu wirken.
    »Es war freundlich, dass Sie mich begleitet haben«, sagte sie, »auch wenn es nicht unbedingt nötig war.«
    Die Tür des Gasthauses wurde aufgerissen, bevor Finlay die Gelegenheit hatte, sich in aller Form von ihr zu verabschieden. Hinter einer Frau mit flinken Wieselaugen, in der wegen ihrer brennenden Neugier die Wirtin zu vermuten war, trat ein uniformierter Kurier auf die Gasse.
    »Demoiselle Heuser?«, sagte er. »Eine Depesche für Sie.«

    Es überraschte Finlay, dass sie den Brief vor seinen Augen aufriss.
    »Schlimme Nachrichten?«, fragte er leise, als er sie blass werden sah.
    Regungslos starrte sie ihn an.
    »Nein«, sagte

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