Wiegenlied Roman
rote Samt gemächlich nach oben glitt.
Mit zitternden Fingern ertastete Elsa den Sitz ihrer Perücke. Während das nervöse Wispern unter den Schauspielern erstarb, huschte plötzlich die Wuttig mit einem Handspiegel heran. Trotz der miserablen Verhältnisse, was die Sicht im Halbdunkel anging, konnte Elsa sich noch einmal ihrer Schönheit und der Makellosigkeit ihres Kostüms versichern. Hersilies Schneiderin hatte eine Meisterleistung vollbracht.
In ihrem vom Schrecken getrübten Gedächtnis fischte Elsa nach den ersten Sätzen ihres Textes, und als sie diese parat hatte, fiel alles von ihr ab, so als hätte sie vor diesem Moment kein anderes Leben gehabt.
Da er ein geübtes Schattendasein führte, hatte er einem Gespräch des Königs lauschen können, das dieser im chinesischen Zimmer geführt hatte. Wem er sich anvertraute, wusste er nicht, denn er erkannte die Stimme nicht, und er hatte das Feld räumen müssen, bevor der Mann das Zimmer verließ. Normalerweise ging er den Dingen auf den Grund, bis er jedes Detail kannte, auch wenn es eine zeitraubende Angelegenheit war. Doch in diesem Fall zählte allein die Botschaft.
Seit er das triumphale Wissen mit sich trug, dass der König die Ehe mit der zweiten Frau nicht vollzog, hatte sich
das brüchige Bündnis mit dem Monarchen wieder erneuert. Er hatte weinen müssen wie sonst nur in Charlottenburg, als er den König sagen hörte, dass sich jedes Mal das lebendige Bild Luises zwischen ihn und die andere schob, womit die Sache unterblieb.
Er sah hinaus auf die Straße Unter den Linden. Dieses Volk, wie es ahnungslos in der Sommersonne flanierte, zu den Zimmern Seiner Majestät hinaufblickend in der Hoffnung, ihn anzutreffen, wenn er das Palais verließ. Man liebte den König dafür, wenn er, im Aufbruch zu einem Spaziergang oder einer Fahrt im offenen Wagen befindlich, leutselig grüßte, seine kurzen Sätze sprach, mit Straßenharfenisten und Leierkastenspielern launige Vereinbarungen traf, wann es ihm genehm war, dass sie unter seinen Fenstern spielten. Von einem seiner Diener erhielten sie stets acht Groschen dafür.
Nur ein höfisches Fossil wie er selbst - und neben ihm die alte verstorbene Voß - wusste aus eigenem Erleben, wie sehr die Königin den König zu dem milden Menschen gemacht hatte, der er bis heute war.
Sein rettungslos verdüstertes Gemüt drängte ihm die Frage auf, ob Seiner Majestät die Freiheit des Gedenkens, ob ihm die Stille einsamen Kummers überhaupt noch gegeben war. Was blieb dem Monarchen, wenn er nach Charlottenburg ging, seiner Königin Blumen in die weißen Hände legte, den Tränen nachtrauerte, die er nicht mehr zu weinen vermochte, und sich des Verlusts von Erinnerungen bezichtigte? Wenn er die Wahrhaftigkeit ihrer Abbildung zu ertragen hatte und die Verzweiflung, sie weder mit einer Berührung noch mit einem seiner trostlosen Küsse zum Leben erwecken zu können?
Wie sollte der König sich seinem heiligen Schmerz hingeben, wenn die Person ihn im Prinzessinnenpalais zum Tee erwartete? Es widerte ihn an, sehen zu müssen, wie sie sich mühte, ihn für sich einzunehmen. Zweifellos schlug mit dem Treppensturz des Königs im vergangenen Jahr, der Seiner Majestät einen komplizierten Beinbruch einbrachte, ihre Stunde, denn so hatte sie die Gelegenheit, vor aller Augen die hingebungsvolle sœur de la charité zu geben, bis selbst die Skeptiker der Hofgesellschaft angesichts ihrer sanften Gutartigkeit und demütigen Pflege die Segel strichen und bereit waren, sie endlich, endlich zu achten.
Geflüster vom Ende des Ganges ließ ihn zusammenschrecken. Unterdrücktes Gelächter, welches ihm bekanntermaßen ankündigte, dass man ihn gesehen hatte. Er wandte sich ab und wartete, bis die Schritte sich entfernten und schließlich auch das Lachen verebbte.
Herkunft und Erziehung hatten ihn gelehrt, dem preußischen König zu dienen. Hingabe an sein Amt hatte ihn die Königin gelehrt. Er tastete nach dem eisernen Schmuckkreuz, in dessen Mitte sich ihr golden gefasstes Bildnis befand. Er trug es Tag und Nacht. Vor anderen Menschen verbarg er es in der Brusttasche seiner Weste, die der livrierte Gehrock seiner höfischen Kleidung bedeckte. Er glaubte daran, dass dieses Stück Eisen ihn mit dem Mut ausstattete, der ihr selbst eigen gewesen war. Wer wollte je vergessen, wie sie sich dem Wunsch ihres Königs beugte und Napoleon in Tilsit entgegengetreten war, ihn um die preußischen Provinzen anzubetteln?
Schön wie eine Eisblüte hatte
Weitere Kostenlose Bücher