Wiegenlied Roman
sich im Ganzen sah. Kaum jemals hatte sie sich in einem Kostüm so enthusiastisch gefühlt. Mit erhobenem Kinn salutierte sie vor ihrem Spiegelbild und verließ eilig das Ankleidezimmer.
Auf leisen Füßen huschte sie im Korridor an den übrigen Garderoben vorbei, als soeben Fräulein Wuttig, die Ankleidefrau der Stich, in verzweifelter Hast mit einer wehenden Auswahl hauchdünner Brusttücher gelaufen kam. Elsa verschwand hinter einem Kostümgestell und verließ ihr Versteck, sobald sich die Tür hinter der Wuttig schloss.
Die ungeordneten Klänge der Instrumente und das Raunen gedämpfter Stimmen empfingen sie in vertrauter Weise auf der dunklen Bühne, während draußen, im Lichterglanz der Kronleuchter, die Damen in ihren Seidenroben changierten. Diamantschmuck blitzte angriffslustig von Händen und Hälsen, aus Dekolletés und gescheitelten Frisuren. Die Herren in ihren schwarzen Fräcken dagegen wirkten strenger, als sie es in ihrem Urteil sein würden. Noch tauschte man Artigkeiten aus und wartete, an den Plätzen stehend, auf den König.
Elsa wich von ihrem Beobachtungsposten an einem der Gucklöcher des Vorhangs zurück. Unbemerkt hatten sich zu ihren Füßen die Taftschirme aus dem Innern der Rampe in Bewegung gesetzt, die zur Veränderung der Lichtstimmung dienten. Leise fuhren sie nun hoch und wieder herunter, während es stetig heller wurde. Die bald vollständig entzündeten Beleuchtungsflammen würden mit dem Hebewerk aus dem Podium aufsteigen und die Bühne illuminieren. An den blinkenden Brillengläsern im Souffleurkasten erkannte Elsa, dass es Herr Wolff war, der für die Lichtprobe der verschiedenen Stimmungen die Hebel der bunten Taftschirme bediente. Sie nickte ihm freundlich zu, kreuzte die Finger hinter dem Rücken und schwor sich, nicht auf die Einflüsterungen des Souffleurs zurückgreifen zu müssen. Das Publikum verzieh dergleichen nicht, und niemanden interessierte
dabei, wie wenig Zeit sie zur Vorbereitung ihrer Rolle hatte.
Unter der Schminke spürte Elsa die Hitze vom Hals zu den Wangen steigen. Sie legte den Kopf in den Nacken und zwang sich, ruhig zu atmen. Aus den Kulissen kamen jetzt die Männer und Knaben des Chors, um auf der Bühne Aufstellung zu nehmen, und während Elsa hinter einen der Dekorationsflügel auswich, sagte sie im Stillen eine zungenbrecherische Textpassage vor sich her, die ihr beim Memorieren größte Schwierigkeiten bereitet hatte. Jedes Mal, wenn sie sich aufs Neue verhaspelte, war sie in derart unbeherrschten Zorn geraten, dass Madame Stopfkuchen schließlich nach Hopfentee rufen ließ.
Tagelang hatte Hersilie auf Whistspiele mit ihren Damen verzichtet, auf Soupers, Spazierfahrten und die Oper. Selbst ihren Mittagsschlaf opferte sie, um mit dem Textbuch als Stichwortgeberin zur Verfügung zu stehen, wann immer Elsa sie benötigte. Und obwohl sie ausführlich beklagte, dass die Salons heutzutage nicht mehr mit den früheren zu vergleichen waren, hatte Madame Stopfkuchen sich zu einer literarischen Abendgesellschaft begeben, weil sie wusste, dass die Stich ebenfalls eingeladen war.
»Wenn Sie mich fragen, mein Kind, Berlin hat ihr die Sache noch immer nicht verziehen, und sie weiß es. Wie sie als Abgöttin der Königlichen Bühne figuriert, das hat ja schon etwas Verzweifeltes.«
Doch Hersilies wohlmeinende Schmähungen hatten Elsa keinen Frieden verschafft, denn durch die Rückkehr der Stich aus Petersburg war sie zurück in die Niederungen der Hosenrollen geworfen worden. Die »Sache« war im Übrigen ein Dolchstoß, den ein gräflicher Verehrer der Stich ihrem
armen Gatten versetzt hatte, woran dieser zwar nicht auf der Stelle starb, aber eben doch wenige Monate später, was Folgen für die Erste Liebhaberin der Königlichen Bühne mit dem nun äußerst fatal mehrdeutigen Namen hatte. Nach Lage der Dinge bei ihrer Rückkunft vom Gastspiel hatte die Stich sich den Intendanten im Höllenfeuer markerschütternden Gezeters gefügig gemacht.
»Man feierte mich in Petersburg, mein Bester! Bei Hofe erhob man sich, wenn ich die Bühne betrat! Und Sie besetzen hinter meinem Rücken eine Soubrette als Käthchen!«
Das gesamte Ensemble war durch mehrere Wände hindurch Ohrenzeuge ihres furiosen Auftritts geworden. Und der Intendant, ein schwacher Mensch, den die nervtötenden Streitigkeiten am Theater nur immer weiter entkräfteten, gab nach. Der König, das hatte er zu bedenken, war ein treuer Anhänger der Stich und sah sie ausnehmend gern, solange sie in
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