Wiegenlied Roman
Lustgarten gesehen hatte. Es war das Selbstporträt einer französischen Malerin, deren kinnlang geschnittenes Haar ihr gefallen hatte. Wie angenehm es sein musste, sich nicht mehr mit Frisuren und Haarklammern aufzuhalten! Erst heute früh wieder hätte sie vor Wut
schreien wollen, als sie sich in zeitraubender Weise damit abgeben musste.
Im Schlafsaal wurde es plötzlich laut, als wäre ein Kampf im Gange.
»Willst du die Hände von mir nehmen, du Kröte!«, gellte die Stimme einer Frau.
Helene zog die Haube über und warf den Apfelrest aus dem Fenster. Sie erreichte gerade die Tür, als diese aufflog und ihre Schläfe traf.
»Was in Gottes Namen …«
Sie taumelte benommen zurück, während Boltz, ein Krankenwärter der Nebenabteilung, eine Frau ins Zimmer stieß, die er am Arm gepackt hatte.
»Na, guck hin, was du angerichtet hast!«
»Ich lass mich nicht von einem, der die Krätze hat, anfassen! Weg! Weg!«
Aus dem Schlafsaal der Schwangeren kam schläfriges Schimpfen, während die junge, hochschwangere Frau in ihrem dottergelben Kleid fauchte und spuckte, bis Helene dazwischenging.
»Wollen Sie jetzt wohl beide ruhig sein! Boltz, schließen Sie die Tür, und bleiben Sie, wo Sie sind.«
Mürrisch folgte der Krankenwärter Helenes Anweisungen, während er die Schwangere nicht aus den geröteten Augen ließ.
»Ich hab nur meine Arbeit gemacht.«
Tatsächlich hatte Boltz die Krätze, und da er, ein Korbflechter in mittleren Jahren, die Charité in diesem Leben niemals mehr geheilt verlassen würde, diente er seine Zeit als Krankenwärter bei den Geisteskranken ab, was ihn keineswegs bewog, auf seine leibliche Sauberkeit oder die seiner
fadenscheinigen Kleider zu achten. Es ging ein Gestank von ihm aus, der trotz des geöffneten Fensters im Zimmer stand wie ein benutztes Nachtgeschirr.
»Sie hatten den Auftrag, diese Frau hierherzubringen?«, fragte Helene ungläubig. »Von wem?«
Boltz zuckte die Schultern und machte einen krummen Rücken. Die Wärme musste ihm schlimmstes Jucken verschaffen. Hinter Helene spuckte die Schwangere geräuschvoll aus dem Fenster.
»Von’nem Doktor eben«, maulte Boltz und rieb seinen Nacken am Kragen seiner Jacke. »Hat gesagt, ich soll aufpassen, dass sie nicht wegrennt, sie wär bald so weit.«
»Wüsste nicht, was dich das angeht«, blaffte die Frau am Fenster. Im Stillen stimmte Helene ihr zu.
Von draußen hörte sie jemanden ihren Namen rufen.
Erstaunlich behände sprang Boltz auf die Seite, als Doktor Novak, Stabsarzt der Militärakademie und Erster Assistent Hähnleins, die Tür mit einem Ruck öffnete.
»Was hat diese Unruhe zu bedeuten?«, herrschte er Helene an. Hinter ihr fluchte leise die junge Frau.
»Der Krankenwärter behauptet, er sei von einem Arzt angewiesen worden, die Schwangere hier abzuliefern.«
»Ich hör hier immer behauptet …«, nervös pulte Boltz an einer Schorfrinde seiner linken Hand, »… als ob die mir vom Himmel vor die Beine gefallen wär.«
»Halten Sie den Mund, Mann, und verschwinden Sie auf der Stelle!«
Ärgerlich rückte der Arzt seinen Rock zurecht, den er beim Verlassen seiner Dienstwohnung am Ende des Westflügels hastig übergeworfen hatte, während Boltz sich aus der Tür drückte.
»Hier hat niemand irgendetwas angewiesen, damit das klar ist«, schnarrte Novak, der selbst in verschlafenem Zustand eine beachtliche Arroganz aufbrachte. »Allerdings ist das Fräulein durchaus richtig hier. Sie gehört, wenn ich mich recht erinnere, zu den verlässlichen Einzahlerinnen der Hurenheilungskasse. Hatten zuletzt die Ehre auf der Venerischen, war es nicht so?«
Die Schwangere stemmte die Hände in die Seiten und blies sich eine Strähne ihrer ramponierten Frisur aus dem Gesicht.
»Ein unbestätigter Verdacht, Herr Doktor, wenn ich Ihnen mal auf die Sprünge helfen darf.«
»Verschonen Sie mich, Verehrteste«, näselte Novak. »Hier springt niemand mehr irgendwohin. Heuser, Sie nehmen die Schöne der Nacht auf, wenn ich bitten darf. Und da der Professor so große Stücke auf Sie hält, empfehle ich mich und überlasse Ihnen die erste Visitation.«
Er unterdrückte ein Gähnen.
»Die Damen?«
Beide horchten sie seinen sich entfernenden Schritten nach.
»Lassen Sie mich gehen«, sagte die Schwangere leise.
»Das kann ich nicht.« Helene griff nach einem Apfel auf dem Wandbord und gab ihn ihr.
»Erzählen Sie mir, wie es kommt, dass Sie gegen Ihren Willen hier sind«, sagte sie.
Sidonie, die eigentlich Henriette
Weitere Kostenlose Bücher