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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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sie zwischen dem Kaiser Frankreichs und dem russischen Zaren beim Diner gesessen, umgeben von Generälen und Staatsministern, die ihr das
Schicksal Preußens in die Hände gelegt hatten. (Mit eigenen Augen hatte er es nicht sehen können - das Tagebuch der alten Hofdame Voß allerdings. Aus dem Gedächtnis hatte er sich Notizen gemacht, bis es ihm so vorkam, er wäre anstelle der Voß in Tilsit gewesen.)
    Ein warmer Windstoß fuhr durch eines der geöffneten Fenster und erinnerte ihn an das unablässige Reißen in seinen Gliedern. Im Gehen versuchte er sich aufzurichten, streckte den alten verknöcherten Rücken, soweit es ihm möglich war, und betrat das Arbeitskabinett der Königin.
    Hier hatte man heute noch nicht gelüftet, was ihn für einen Moment friedlich stimmte. Mit der Gier eines Opiumrauchers sog er die besondere Note des unbelebten Zimmers ein, die sich mit dem Parfüm getrockneten Lavendels anreicherte. Bis heute wurden die Räuchergefäße mit den Blütenähren gefüllt, deren Duft die Königin an den großmütterlichen Garten erinnert hatte.
    Er schloss die Tür hinter sich und begann das Oval des Zimmers abzuschreiten. Die stickige Wärme empfand er, als käme sie von den blutrot tapezierten Wänden, dabei hatte natürlich die Julisonne ihre Hitze durch die zwei Fenster geschickt.
    Er bog den steifen Oberkörper zurück, um nach den goldenen Sternen im Blau der gewölbten Decke zu sehen. Erst dann setzte er seinen Weg fort.
    Würde ihn jetzt jemand entdecken, wie er mit behandschuhten Fingern über den zierlichen Schreibtisch strich, dann fände man ihn lediglich bei einer Inspektion. Niemand könnte behaupten, dass er sich damit etwas Ungebührliches herausnahm, sich einer Anmaßung schuldig machte. Weder
würde er sich auf einem der Sessel und erst recht nicht auf der Chaiselongue neben der Ofennische niederlassen. Dagegen rückte er wie selbstverständlich das Schreibzeug der Königin zurecht, die schwarze Holzkonsole für das gefüllte Tintenfass und ein zweites mit Sand. Ihre zuletzt verwendeten Schreibfedern ordnete er akkurat der Größe nach. Sein Herzschlag veränderte mit einem Mal den Rhythmus. Das Blut raste in seinen Adern.
    Er dachte an die banalen Briefe der unaussprechlichen Person, dieser menschlichen Bagatelle. Wie sie an die Freundinnen in Dresden schrieb, von denen sie eine »Kaninchen« nannte - es konnte ihn in unbeherrschte Affekte versetzen, denen bereits zwei seiner besten Gehstöcke zum Opfer gefallen waren.
    Zuerst waren ihm die Schilderungen ihrer alltäglichen Vertraulichkeiten mit dem König unerträglich gewesen. Jedes Mal, wenn er einen ihrer Briefe erwischen konnte und in seinem Zimmer das Siegel löste, fürchtete er, auf eine unverzeihliche Nachricht zu stoßen.
    Sie schrieb von bestickten Ofenschirmen, von Körbchen für die Wollreste ihrer Tapisseriearbeiten, von Blumen, die sie aus Glanzpapier fertigte und zu Bouquets arrangierte. Seit Neuestem fand sie Freude am Ausschneiden von Figuren, mit denen sie alles, was ihr unter die Finger kam, beklebte.
    Sie war des Königs grausamster Irrtum. Er empfand sie wie ein schleichendes Gift.
    Die davoneilende Sonne streifte flimmernd eine unvollendete Stickerei der Königin, die in den Rahmen gespannt auf dem Nähtischchen stetig verblich. Er trat an das Fenster, um das Sonnenlicht abzuschirmen. Mit der Wärme, die auf
seinen Rücken traf, breitete sich plötzlich eine Idee in ihm aus.
    Was, wenn die Einfältigkeit ihrer Briefe nur die Farbe einer Fassade war, hinter der sie den Plan vorantrieb, den König seinem vornehmlichsten Prinzip zu entfremden?
    Unverzeihlich, dass er erst jetzt darauf kam.
     
    Vom Hof hörte er das Kläffen eines Hundes. Ihr Rufen, und selbst durch das geschlossene Fenster erkannte er, dass es ihre Stimme war, ließ ihn die Fäuste ballen, bis es schmerzte.
    Im Gegensatz zum König mangelte es ihm nicht an Tatkraft. Er musste sie aufhalten. Mit einem Ruck setzte er sich in Bewegung und verschwand durch die Tapetentür zu den Treppen.

    Helene nahm die Haube ab und schob ihre Haarfülle aus dem Nacken. Mit dem abnehmenden Mond, der in einer verschwommenen Korona über den Wiesen aufgetaucht war, kühlte sich endlich der Wind ab, der den ganzen Tag über Heustaub in die Hebammenkammer getragen hatte.
    Erschöpft nahm sie einen Apfel vom Bord über ihrem Feldbett und setzte sich ans Fenster. Eine Brise strich freundlich um ihren Nacken, als ihr ein Bild einfiel, das sie im Königlichen Museum am

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