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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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Oesterling hieß, war eine Hure. Helene erfuhr, dass es in Berlin üblich war, in den Bordellen nach Schwangeren zu suchen, um sie in die Charité einzuweisen, damit sie der Wissenschaft dienten. Denn
wer außer ihnen sollte sich finden, über Wochen, bevorzugt gleich etliche Monate vor der Niederkunft, auf der Entbindungsstation auszuharren, um sich von Ärzten und Studenten der Medizin touchieren zu lassen? Die Gelehrten der Geburtsmedizin an der Charité schätzten die Huren als lebende Schwangerschaftskalender, an denen sie protokollieren konnten, was ihnen sonst selten möglich war.
    Helene lauschte hinaus in den Schlafsaal. Nur wenige Frauen befanden sich dort in den Betten. Das bekannte Phänomen leerer Gebärhäuser im Sommer betraf auch die Entbindungsabteilung der Charité. Ließ man deshalb abends in den Bordellen nach Schwangeren suchen? Sidonie nannte es Huren-Fischen. Man kannte die betreffenden Herren und warnte einander, wenn sie in den Gassen nahe der alten Stadtmauer auftauchten. Manchmal gab es einen Neuen, dann konnte es sie unerwartet erwischen, so wie Sidonie heute.
    Helene zog die Öllampe näher und tauchte die Feder ins Tintenfass. Der warme Wind strich noch immer über die gemähten Wiesen. Die Flamme unter dem Glaskolben flackerte leicht, und es war in diesem Augenblick vollkommen still. Niemand wimmerte traumgeplagt in den klumpigen Kissen seines Spitalbettes, und Helene war glücklich, dass sie genau an diesem Ort sein durfte. Sie schrieb.
    Aufnahmeprotokoll Oesterling, Henriette
    Den 29ten Juli 1828 abends eingetroffen, nach äußerer Besichtigung durch einen physikus forensis, im Bordell der Frau Roon, Königsmauer No 27.
    Einundzwanzig Jahre, Lohnhure. Erste Schwangerschaft. Menstruation erschien erstmalig im 16. Jahr und ohne Beschwerden.

    Schlanker Wuchs, mittlere Größe. Einschnürungen unter der Brust, ansonsten bis auf eine Vielzahl blauer Flecken an den Schenkeln gesund und in Maßen gut genährt. Tastuntersuchung ergibt Kindslage auf dem Fuße. Muttermund fest geschlossen. Dichte Membranen. Die äußeren Geburtsteile straff und leicht gerötet.
    Helene legte die Feder fort und streckte sich, bevor sie aufstand. Sie musste nach der Wöchnerin sehen, die Professor Hähnlein am Morgen des eben vergangenen Tages in Anwesenheit Novaks und zweier Eleven der Militärakademie unter Zuhilfenahme der Zange von Zwillingen entbunden hatte. Von sechsundzwanzig Geburten in diesem Jahr war es die erste Zwillingsgeburt an der Charité. Noch lebten beide Kinder. Das Erstgeborene, ein Mädchen, hatte schon an der Brust getrunken, doch der Knabe war sehr schwach. Der Mutter verabreichte man am frühen Abend zur Stärkung eine Gabe Hirschhornsalz und setzte ihr fünfzehn Blutegel.
    Vor einer halben Stunde, nachdem Sidonie, wenn auch unter fortgesetztem Protest, endlich eingeschlafen war, hatte Helene zuletzt nach ihnen gesehen. An den Wänden des Schlafsaales brannten langsam die Lichter herunter. Eine der Frauen warf sich herum, als Helene vorüberging.
    Im Zimmer der Wöchnerin schlug ihr stickige Luft entgegen. Die Frau schlief tief und fest, das Haar klebte ihr an den schweißnassen Schläfen. Erst nachdem Helene das Fenster geöffnet hatte, bemerkte sie, dass die Augen des neugeborenen Mädchens sich suchend dem Licht zuwandten, das sie auf dem Nachttisch abstellte.

    »Guten Morgen, kleine Freundin«, flüsterte Helene. »Wie geht es deinem Bruder?«

    Hersilie Stopfkuchen verabscheute Temperaturen, die sie echauffierten, bevor der Tag überhaupt begonnen hatte, und sie hoffte inständig, der restliche Hochsommer würde sich nicht wie diese Juliwochen gestalten. Obwohl es noch früher Morgen war und die Fenster geschlossen, wurde einem bereits die Zeitung in den Händen weich, und so ließ Hersilie die neueste Ausgabe der Berliner Schnellpost mit spitzen Fingern zu Boden fallen, um weder sich noch das bestickte Tischtuch von Druckerschwärze beschmutzen zu lassen.
    Außerdem stand nichts über das Kind darinnen.
    Hersilie schenkte sich Tee nach. Seufzend sah sie zu, wie sich die Sahne im tiefen Braun des Darjeeling zu einer hellen Blüte entfaltete.
    Sie hatte zwei anstrengende Wochen hinter sich, und das ausgerechnet zu einer Zeit, die sie normalerweise in Teplitz verbrachte, da hielt sie es mit dem König. Doch sie hatte das Kind nicht schon wieder in einer schweren Zeit allein lassen können, zumal auch Malvine von Homberg derzeit nicht abkömmlich war; wer wollte ihr das verübeln?

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