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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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Hersilie hatte ihr alle zwei Tage geschrieben. Dergleichen war man einander doch schuldig. Leider hatte sich Malvine im Gegenzug nicht dazu geäußert, wie es um Elsas Verbindung zu Moritz von Vredow stand, der sich nun ganz und gar nicht mehr blicken ließ. Und das Kind selbst zu fragen, daran war überhaupt nicht zu denken, bei dem derzeit so angegriffenen
Gemüt. Evelines indolente Art, sich unwissend zu geben, ließ Schlimmstes befürchten.
    Hersilie zog die Schleife ihrer Spitzenhaube auf, mit der sie ihr Kinn unter Kontrolle zu halten pflegte. Erlöst vom Kneifen der Chiffonbänder, beugte sie sich vor und löffelte Johannisbeergelee auf eine der frischen Schrippen. Sie musste darüber nachdenken, ob sie eine Gesellschaft geben sollte. Diese Frage bereitete ihr unendliches Kopfzerbrechen, denn taktische Winkelzüge waren wahrhaftig nicht ihre Stärke.
    Leidenschaftlichste Schilderungen darüber, wie Elsa im Kronprinzenpalais über die Bühne geflogen war, durchzogen nämlich noch immer die Berliner Gesellschaft, wobei mittlerweile vor allem jene darüber sprachen, die nicht dabei gewesen waren, mit anderen Worten - die ganze Stadt. Beinahe fünfzehn Tage nach der ungewöhnlichen Aufführung vor dem König beschäftigte die Damen noch immer, wie Demoiselle Heusers auf den Leib geschneidertes Kostüm einige Arabesken, den pas de chat und die ungewöhnlich raumgreifenden Posen überstanden hatte, ohne von ihr abzuplatzen. Von Salon zu Salon variierten die Details des Kostüms, wobei man sich im Ganzen darüber einig war, dass es aus einer Kniebundhose, einem gefältelten Batisthemd und einer taillierten Samtweste bestanden hatte.
    Sobald sie bei ihren Zigarren unter sich waren, interessierte die Herren an der Raffinesse des Kostüms allein, wie deutlich die Konturen der elfenhaften Gestalt Demoiselle Heusers zu erkennen gewesen waren. Elfenhaft! Keinesfalls unschicklich! Hier gingen die Meinungen der Herren zu denen einiger - doch beileibe nicht aller - Damen auseinander. Denn, und das war das Überraschende am gewagten
Debüt der Heuser als Schneidergeselle: Es herrschte Einigkeit über ihr Talent zur großen Kunst.
    Und der Mut des Intendanten! Man bewunderte ihn für sein persönliches Heldenstück, mit der jungen Schauspielerin am gesträubten Fell der Stich vorbei die Hauptrolle zu besetzen. Hingegen musste man sich nicht lange nach den Gründen für seine ernste Erkrankung fragen, die den Grafen zwang, auf Usedom ausgiebig zu kuren.
    Die Stich, in ihrem bekanntermaßen mittleren Alter, hatte in den Schwestern von Prag ein Mädchen von siebzehn Jahren gespielt. Es hatte ihr grausame Häme eingebracht, die sich selbstredend erst am Tag danach in den Salons Bahn brechen konnte.
    Hersilies Haus in der Französischen Straße glich an Tag zwei nach dem Bühnenabend einem Taubenschlag, bis sie wegen Elsa niemanden mehr empfing. Man hatte sich kaum retten können vor Einladungen, von denen Hersilie nur die unausweichlichen annahm, um dann offene Debatten darüber ertragen zu müssen, ob die Heuser beim König in Ungnade gefallen war oder nicht. Dabei erübrigte sich die Frage, denn sie spielte wieder. Kleine Rollen, Mägde und dergleichen, aber mit einer zauberhaften Präsenz, die ihr niemand absprechen wollte.
    Sie vernahm die Glocke an der Haustür. Unerhört, kamen die Leute jetzt schon vor neun? Erdreistete sich ein Lieferant, den Vordereingang zu benutzen? Wer wusste schon, was während ihres Pyrmont-Aufenthaltes an Unartigkeiten eingerissen sein mochte. Wenn man nur nicht so abhängig von der Dienerschaft wäre!
    Hersilie ertastete auf der Kommode hinter sich einen mit Seide bezogenen Kasten, der eine Sammlung von Zeitungsausschnitten
enthielt, und es gelang ihr, ihn auf den Schoß zu ziehen, ohne aufstehen zu müssen. Schon war es wieder so weit, dass man von jeder Bewegung ins Schwitzen gebracht wurde - entsetzlich.
    Im Merkur schrieb man der Stich nach dem Munde, in der Vossischen allein dem Hof, was die Berliner Kultur noch langweiliger machte, als sie es ohnehin schon war. Und Saphir in seiner Schnellpost schrieb nach einem einzigen Artikel gar nichts mehr zu der Sache. Es war ihm zu dumm, sagte man.
    Elsa, das arme Kind, schwor nach wie vor Stein und Bein, wenn sie allabendlich das Geschehen noch einmal besprachen, dass der König beim Abendessen, welches im Anschluss an die Aufführung im großen Speisesaal des Kronprinzenpalais für alle Gäste gegeben worden war, sich ausnehmend freundlich gegen sie

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