Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
Vom Netzwerk:
dünne Suppe aus Knochen kochte, die sie dem Schlachter abgeschwatzt hatte, wie sie sagte. Bis Sidonie diejenige war, die das übernehmen musste, und eine Schweineschulter mit ihrer Unschuld bezahlte, schon damals hatte sie sich mit trotzigen Träumen von einem besseren Leben über Wasser gehalten.
    Allerdings kam es mit dem Schuldenabzahlen zu keinem Ende, seit sie unter dem schweren Körper des Maxe Spiller zu einem öffentlichen Mädchen geworden war; das eine zog das andere nach sich sozusagen. Sidonies erster Kuppler war ihr Vater, Weißbinder seines Zeichens und Würfelspieler mit mäßigem Talent. Von ihrem vierzehnten Jahr an hatte sie für seine Spielschulden aufkommen müssen.
    Sidonie spuckte in die Spree und bildete sich ein, die Schaumkrone ihres Speichels davonfließen zu sehen. Sie wandte sich ab, überlegte, ob sie den Weg über den Neuen Markt nehmen sollte, und entschied sich dagegen. Den Hökerweibern, bei denen sie Äpfel kaufte, wollte sie den Anblick ihrer glanzlosen Erscheinung nicht gönnen. Noch nie war sie unfrisiert auf dem Platz erschienen, um ihre Einkäufe
zu machen. Der Gedanke an Lula, an ihre freundlichen Hände, die nach exakt vierhundert Bürstenstrichen mit der Geschmeidigkeit ihrer dicken Finger kühne Gebilde auf ihrem Kopf entstehen ließen, von denen die elegantesten Mätressen Berlins nur träumen konnten, stimmte Sidonie mit einem Mal hoffnungsvoll, obwohl die Seife der Charité so ziemlich alles verdorben hatte, was Lula an ihr Freude machte. Sidonie sehnte sich nach ihrem entrüsteten Aufschrei.
    Jetzt hatte die Königsmauer sie wieder. Die enge Gasse mit ihren zweiundfünfzig Häusern, von denen mehr als die Hälfte Bordelle und Absteigen waren, empfing sie mit ihrem verkommenen, vertrauten Gesicht. Im Schatten der Wäsche auf den Leinen vor den Fenstern hechelten Hunde in der Mittagshitze oder sprangen kreischenden Kindern davon. Hinter den offen stehenden Fenstern stritten die Leute oder dämmerten träge vor sich hin. Es roch nach Mensch und Vieh, nach ihren Exkrementen und der Enge, in der sie zusammenlebten. Die Luft stand zwischen den Häusern wie Ofenhitze.
    Sie würde ein neues Kleid kaufen müssen. Den Gedanken, sich bei der Schottischen Marie eines zu leihen, schloss Sidonie sofort wieder aus, während sie weiterlief. Für ein Salonkleid aus Kattun verlangte die Alte zehn Silbergroschen die Woche, ein seidenes kostete doppelt so viel, und außerdem hatte sie einen billigen Geschmack. Sie würde ein weiteres Mal Geld borgen müssen bei Perdita Roon, der sie nahezu alles schuldete, was sie war und besaß.
    Sie war Sidonie wie ein rettender Engel erschienen, als die väterliche Faust soeben ihre siebzehnjährige Nase demoliert hatte. Hätte die Roon sie nicht mit einem beherzten Griff wieder ins Lot gebracht an jenem Novembermorgen,
wäre die Nase für das Einkommen eine Katastrophe gewesen.
    Perdita, die ein untrügliches Auge für profitable Mädchen hatte, nahm Sidonie mit in ihr Haus, ließ sie ausruhen, bis das Gesicht die ursprüngliche Schönheit wiedererlangt hatte, und gab ihr ein Zimmer mit grünen Tapeten. Zur Würfelbude der blonden Guste am Schützenplatz, wo Sidonies Vater verlässlich spielte, entsandte sie eine Abordnung von Männern, die so viel Charakter hatten, ihn versuchsweise in der Spree zu versenken, was er nur knapp und mit dem Verlust seines Gedächtnisses überlebte.
    Das Zimmer mit den grünen Tapeten bewohnte Sidonie bis heute. Es war ein gutes Zimmer mit Samtgardinen und einem breiten, weichen Bett. Das Holz der Kommode glänzte, wenn man es polierte, und anstatt einer verbeulten Schüssel gab es ein Waschgeschirr mit rosa Rand.
    Perdita hatte neben der Köchin und zwei Wäscherinnen gleichsam Hausmädchen und Magd in Brot und Lohn, die den Bewohnerinnen das Gefühl verschafften, dass es Tätigkeiten gab, zu denen sie sich nicht herablassen mussten. Es gab viele Gründe, warum Sidonie bis heute nicht wegkam von der Roon.
    Zu spät bemerkte sie den süßen Tabakqualm, der sie hätte warnen müssen, und bevor sie die Straßenseite wechseln konnte, hatte die kalte Pauline sie am Wickel.
    »Na, lange nicht gesehen, Mamsellchen, und der Bauch ist immer noch dick. Komische Welt, dass der Chirurgus nur dich eingefangen hat.«
    Pauline, das eifrigste Schandmaul an der Königsmauer, stand schief in der Tür ihres schmalen Hauses. Im Sonnenlicht schimmerten kahle Stellen durch das dünne Haar, die
sie vom vielen Anbringen falscher Zöpfe hatte,

Weitere Kostenlose Bücher