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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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zurückzuhalten, denn im Zuspruch der Zarin fand sich eine verwirrende Kühle.
    »Alsdann, zeigen Sie sich weiterhin fleißig, Mademoiselle. Vielleicht möchte ich Sie eines Tages abwerben?«, sagte die Fjodorowna. »Denken Sie darüber nach, ob Sie nach Petersburg kommen wollen, wenn ich zu gegebener Zeit nach Ihnen schicke.«
    Die Zarin wandte sich ab und verließ, gefolgt vom Tross ihrer Begleiter, den Schlafsaal. Nur wenige Schritte hinter ihnen blieb eine der Damen zurück, eine auffallend schöne junge Frau mit glänzend dunklem Haar, das ähnlich und doch weit weniger exzentrisch frisiert war als das der Zarin.
Die Eleganz ihrer Toilette hob sie von den der Fjodorowna nacheilenden Hofdamen ab. Sie hob eine Wiesenblume auf, die zu Boden gefallen war, und nickte Doktor Novak zu, der an der Tür wartend strammstand.
    Kaum war sie aus dem Zimmer, begannen die Frauen zu tuscheln, und bei Jette Wigorsky setzten mit aller Wucht die Wehen ein.

    Sobald die Zarin in der Charité eingetroffen war, hatte niemand mehr auf Sidonie geachtet. Die Krankenwärter hatten alle Hände voll zu tun, die Leute in den Zimmern zu halten, damit sie der Majestät nicht zu nahe kamen. Alle waren wie wild, sie leibhaftig zu sehen. Die Säle mit den Verrückten hatte man ganz und gar abgesperrt, was für Sidonie allein wegen Boltz, dem es gefiel, ihr überall aufzulauern, eine gute Sache war.
    Sie hatte noch die junge Frau des Königs aus der letzten Equipage steigen sehen. Sidonie kannte ihren Anblick von Weitem aus dem Tiergarten, wo die Fürstin gern ausritt. Jedes Mal zog es ein Gerede über ihr Äußeres nach sich, wobei das Urteil meistens zu ihrem Besten ausfiel, aber das wusste Sidonie nun auch wieder nicht so genau, denn dafür erlebte sie es zu selten mit.
    Die Tage nämlich, an denen sie nach Besorgungen für die Roon im Tiergarten herumspaziert war, wo alle spazierten, und an denen sie in einem Kaffeezelt zwei Groschen für eine Schale Dickmilch geopfert hatte, waren gleichfalls selten. Die Tage, an denen sie für eine Weile in der Gesellschaft sein konnte, in die sie aufzusteigen hoffte, konnte sie genauso an den Fingern abzählen wie jene, an denen sie sich wie
ein Mensch fühlte. Das passierte, wenn sie ein neues Kleid anschaffen konnte, wie das gelbe, das jetzt, nach den Tagen in der Charité, voll und ganz hinüber war.
    Die Fürstin in ihren schönen Roben aus Stoffen, die Sidonie wenigstens gern einmal angefasst hätte, fühlte sich bestimmt jeden Tag wie ein Mensch, und in der Nacht ohnehin. Allein die Anmut, mit der sie sich zu bewegen wusste, bewunderte Sidonie mit ganzer Seele. Selbst in kürzesten Momenten wie heute, als sie ihr beim Schreiten zugesehen hatte und sich kaum losreißen konnte. Um sich endlich davonzumachen, zurück zu Perdita Roon, der sie auf lange Sicht zu entkommen gedachte.
    Noch während Sidonie die leeren Flure entlanglief, um durch den Westflügel zu entfliehen, nahm sie sich fest vor, alles zu ändern, wenn erst das Kind geboren war. Die Mädchen in den Bordellen - und da unterschieden sich jene an der Königsmauer nicht von denen aus den feineren Häusern in der Friedrichstraße - sie versuchten mit allen Mitteln ihr Monatliches zu unterdrücken, um an jedem Tag ihre Besucher empfangen zu können. Wenn es dann anders kam als gedacht und der Stockung des Blutes nur noch eine einzige Bedeutung zufiel, versuchten sie, mit allen Mitteln das Monatliche wiederherzustellen. Keine von ihnen konnte ein Kind gebrauchen, solange nicht das Herz eines Mannes oder auch ein weniger edles Organ den Sieg über Stolz und Vorurteile davontrug, wofür der Beweis mit einer Heirat anzutreten war.
    Sidonie verlangsamte ihre Schritte, als sie sich dem Viertel näherte, das sie im nächsten Moment wieder schlucken würde. An der sonnenwarmen Mauer der Spreebrücke spürte sie, wie ihr gewölbter Leib sich unter den Händen spannte.
Zu früh, dachte sie. Sechs Wochen zu früh, nach dem, was Heuser und die Ärzte gesagt hatten. Ob ihre Flucht inzwischen aufgefallen war? Es tat ihr leid wegen der Heuser, an die sie sich gewöhnt hatte. Sie würde Ärger kriegen, mit Novak, dem Lackaffen. Mit dem Professor wohl genauso, auch wenn der ansonsten väterlich im Umgang war, und zwar im besten Sinne, nicht so wie Sidonie es von zu Hause kannte, wo es Dresche gegeben hatte und jeden Tag elendiges Gebrüll.
    Wenn ihre kleinen Geschwister heulend vor Hunger auf dem blanken Boden herumgekrochen waren, während ihre Mutter eine

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