Wiegenlied Roman
mich nicht wundert. Ich habe ihn eingeweiht, was Du mir hoffentlich nicht übel nehmen wirst, aber er schien mir so ganz und gar integer. Jetzt ist er, glaube ich, in Wien.
So gehe ich nun in den Stuben von Westen nach Osten und dann von Norden nach Süden, um von Eurer Mutter zu empfinden, was noch von ihrem Geist im Hause ist, damit ich es mit mir nehmen kann nach Berlin. Ich hatte das Privileg, in meiner Ehe glücklich zu sein, es tröstet mich inzwischen mehr und mehr, dass wir diese vielen guten Jahre miteinander hatten und unsere Töchter.
Ich schließe nun und küsse Euch. Wir sehen uns bald, was mich glücklich macht. Empfehlt mich bis dahin der guten Madame Stopfkuchen.
Ich bin ganz der Eure.
Ankomme mit der Postkutsche am 23. August. Logis nehmen werde ich in einer Dienstwohnung der Charité. (Schreibe gesondert an Hähnlein und von Orth.)
Helene dachte an den Brief des Vaters und den zuversichtlichen Ton, der in seinen Zeilen mitschwang, während sie im Schwangerenschlafsaal das letzte der zwei leeren Betten bezog. Elsa hatte sich selbstredend sofort auf den schottischen Arzt kapriziert, Finlay Gordon, den sie tatsächlich komplett vergessen hatte.
»War es ein junger Arzt? Ein schöner? Nun sag schon, hatte er Charakter, Humor? War er charmant oder inakzeptabel? Du hattest Zeit genug, das festzustellen, wenn er dich von der Nikolaikirche bis zur Klosterstraße begleitet hat.«
»Na, was gibt’s zu feixen im Wäscheschrank, Heuser?«, fragte Sidonie von ihrem bevorzugten Platz, dem Fenster, aus.
»Ich freue mich auf meinen Vater, er kommt morgen nach Berlin.«
»Der Vater! Verstehe schon, ich kann schweigen.«
»Schweigen Sie nur, Sidonie, wenn Ihnen danach ist.«
»Heuser, ich werde nicht schlau aus Ihnen. Immer voller Verständnis, aber doch nicht genug, um mich türmen zu lassen.«
»Ich glaube, Sie wären längst getürmt, wenn Sie es drauf angelegt hätten. Die Charité ist kein Zuchthaus.«
»Das seh ich anders.«
Sidonie lehnte sich erneut mit verschränkten Armen ins Fenster. Der Beobachtungsposten verschaffte ihrem hochschwangeren Leib eine bequeme Haltung.
Helene schloss den Schrank, in dem nun jedes Wäschestück, das gestern Nachmittag von der Bleiche auf den Wiesen geholt worden war, sauber gefaltet, den Kanten zu ausgerichtet lag, so fadenscheinig es auch sein mochte. Mit der ächzenden Hebamme Pusche, einer behäbigen Frau mittleren Alters, hatte sie Böden geschrubbt und Matratzen gelüftet (was wenig Effekt hatte), während die Frauen angewiesen waren, sich gegenseitig die Haare zu waschen.
Vor Aufregung hatte die Näherin Jette Wigorsky in der Nacht Wehen bekommen, die sich zum Morgen hin wieder abschwächten, und als Doktor Novak eben verschwunden war, um hastig sein Blondhaar mit Pomade nachzukämmen, hatte Helene den Bitten der Schwangeren nachgegeben und ihnen erlaubt, am Feld Blumen zu pflücken, wenn sie nur schnell genug wieder zurück sein würden.
Sidonie war freiwillig bei Helene geblieben, was hinsichtlich ihres Freiheitsdrangs erstaunlich war. Bislang war sie aus ihr noch wenig schlau geworden, was zum einen daran
liegen mochte, dass ihre Welten so verschieden waren, oder aber daran, dass beide etwas zu verschweigen hatten. Allerdings hatte Helene die junge Hure von einer anderen als ihrer kaltschnäuzigen Seite kennengelernt, nämlich als die Zwillingsmutter nach dem Tod ihres Söhnchens ins kalte Fieber gefallen war. Während man um das Leben der Mutter kämpfte, deren Kräfte zusehends schwanden, kümmerte sich Sidonie um das kleine Mädchen, trug es mit sich und schlief bei ihr im Wöchnerinnenzimmer, nachdem Professor Hähnlein und Doktor Novak dies für unbedenklich hielten.
Ein letztes Mal inspizierte Helene Schlafsaal und Hebammenzimmer, wo die Pusche mit dem Eingangsbuch wie festgewachsen am Tisch saß und schlief. Helene hingegen bemerkte an sich, nun, da alles getan war, erste Anzeichen steigender Nervosität. Sie strich ihre Schürze glatt und besah sich im Fensterglas. Die Haube bedeckte die gekürzten Haare verlässlich gut, allerdings traten in ihrem nackten Gesicht nun verstärkt die Schatten unter den Augen hervor.
Hähnleins Aufforderung, an diesem besonderen Tag in der Charité zu bleiben, war Helene trotz aller Erschöpfung mit einigem Stolz gefolgt, zeigte es ihr doch, dass sie ihn bislang nicht enttäuscht hatte. Gemeinsam mit von Orth und zwei Stabsärzten der Militärakademie bildete der Professor das Empfangskomitee unten am
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