Wiegenlied Roman
Portal der Charité, während Doktor Novak die Stellung in der Entbindungsabteilung zu halten hatte. Die Militärärzte trugen Uniform.
Sie alle warteten auf die Zarin.
Auch das Wöchnerinnenzimmer war rechtzeitig für den hohen Besuch wieder belegt. Die Tanzdirne Maria Papen (sie selbst nannte sich auf der Straße Aurora) hatte zwei Tage
zuvor ohne Zuhilfenahme künstlicher Mittel einen gesunden Jungen geboren.
»Da sind sie, die Durchlauchten!«, schrie Sidonie.
Vom Gang scheuchte Doktor Novak die zurückkehrenden Frauen mit ihren Blumen vor sich her in den Schlafsaal. Alle drängten sich an die Fenster, selbst der Stabsarzt vergaß für einen Moment seine Arroganz.
»Mich laust der Affe«, sagte Sidonie ernstlich ergriffen, »vier Kutschen mit dem königlichen Wappen! Rücken die hier mit dem ganzen Hofstaat an?«
Zarin Alexandra Fjodorowna, geborene Charlotte Prinzessin von Preußen, älteste Tochter des Königs und Frau des Zaren Nikolaus, sprach mit sehr leiser Stimme, die alle zwang, sich um sie zu drängen und dabei doch auf angemessenen Abstand zu achten.
Der lange, schlanke Zarinnenhals trug den zierlichen Kopf mit einer solchen Haltung, dass es ihr Krampfschmerzen verursachen musste, zumal das Haar straff gescheitelt in einem aberwitzig hohen Knoten zusammenfand, der ihr Hinterhaupt krönte. Sie trug ein beinahe schmuckloses Kleid aus heller Seide mit hauchzart gebauschten Ärmeln. An einer langen Kette schwang im Takt ihrer grazilen Schritte ein handtellergroßes Kreuz mit dem in Gold gefassten Miniaturbildnis ihrer Mutter.
Umgeben von ihren Hofdamen und einem Oberstleutnant, ließ sie sich von Professor Hähnlein das neue Geburtsbett erläutern, dessen Anwendung in der Charité seit seiner Anschaffung mit dem des Stuhls konkurrierte. Sie prüfte die Matratzenteile und Rollen, die Rosshaar- und Federkissen, welche dazu dienten, der Gebärenden veränderte Haltungen
in den verschiedenen Geburtsperioden zu ermöglichen, und selbst den Blechkasten zu begutachten, der Geburtswässer und Blut auffangen sollte, scheute sich Ihre Kaiserliche Majestät keineswegs. Besorgt fragte sie nach, ob jener Rost, auf dem der Säugling landen sollte, nicht ein zu harter Gegenstand sei, und ließ sich von der Erläuterung beruhigen, dass eine Schicht gewärmter Windeln den Neugeborenen einen weichen Empfang bereitete.
Von Besuchen wie diesen erwartete man zu Recht viel an der Charité. Schon die alte Zarin hatte sich bei einem zurückliegenden Aufenthalt in Berlin die Entbindungabteilung zeigen lassen, was eine Zuwendung von erfreulichem Umfang nach sich zog, die es erlaubte, nicht nur neue Bettstellen anzuschaffen, sondern auch Instrumente sowie Wachsmodelle für den Unterricht von Hebammen und Studenten. Daher setzte man Hoffnungen darauf, dass die Fjodorowna sich der Entbindungsabteilung der Charité mit dem gleichen aufrichtigen Interesse zuwenden würde wie ihre Schwiegermutter, zumal sie selbst sieben Kinder geboren hatte.
Sobald die junge Zarin den Schlafsaal betrat, bat sie die Schwangeren, sich zu setzen, anstatt in anstrengender Weise neben den Betten Spalier zu stehen. Freundlich nahm sie die Blumen entgegen, erkundigte sich nach dem Befinden der Frauen, und während die Hofdamen ihr die Sträuße abnahmen, behielt sie die Wiesenblumen der Jette Wigorsky in der Hand, was diese heftig bewegte.
Helene beobachtete die Näherin, bis die Zarin vor sie trat.
»Nun, wie ergeht es Ihnen an der Charité, Mademoiselle?«
Die blauen Augen taxierten sie forschend, und Helene fragte sich, was sie wusste.
»Da ich wirklich gern hier bin, Eure Kaiserliche Majestät, sehr gut«, sagte sie.
»Hat sie ausschließlich in Instituten und Spitälern gearbeitet? Professor Hähnlein unterrichtete mich, Sie assistierten Ihrem Vater im Gebärhaus zu Marburg?«
»Wie meine Mutter, die auch Hebamme war, bin ich meinem Beruf ebenso in privaten Häusern nachgegangen, Eure Majestät.«
»Sie ist erst kürzlich von uns gegangen, Ihre Mutter, hörte ich. Sie haben mein ganzes Mitgefühl.«
Helene spürte eine flüchtige Berührung auf ihrem Handgelenk, während die Zarin noch immer ihren Blick festhielt.
»Ehren Sie ihr Andenken mit allem, was Sie tun.« Sie umfasste das Luisenkreuz und drückte es an sich. »Ich selbst werde es mein Leben lang so halten.«
Im bestürzten Schweigen der Umstehenden hatten ihre Worte das Gewicht zu Boden prasselnder Perlen. Sie trafen Helene ins Herz. Sie senkte den Blick, um ihre Tränen
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