Wiegenlied Roman
achtundzwanzig Jahren hatte Malvine der eben vereidigten jungen Gesa einige Wege in Marburg geebnet und darauf bestanden, ihre Hochzeitsfeier mit Clemens Heuser im Rathaussaal ausrichten zu lassen. Gesa wiederum hatte Malvine von den beiden letzten ihrer fünf Kinder entbunden und sie die Patenschaft für ihr Erstgeborenes übernehmen lassen, eine Aufgabe, der sie sich bis heute mit Hingabe widmete.
»Ich muss doch sehr bitten«, sagte Malvine von Homberg, »reden Sie mir nicht von alten Frauen - Sie sind immerhin jünger als ich.«
Energisch hinderte sie Lina daran, ein weiteres Mal die Decken aufzuschütteln.
»Hab die Güte und bereite eine Kanne frischen Tee, Lina«, sagte sie leise, »Kamille vielleicht, oder Eisenkraut. Du weißt besser, was sie am liebsten mag, es wird ihr guttun, etwas zu trinken.«
In den bürgerlichen Zirkeln Marburgs neigte man dazu, Malvine für oberflächlich zu halten, zumal sie größten Wert auf eine makellose Erscheinung und elegante Toiletten legte, doch man tat ihr unrecht damit. Wohl kaum jemand ahnte, wie oft sie mit ihren Meinungen, die sich aus unbändiger Neugier auf alles Zwischenmenschliche und hemmungsloser Beobachtungslust speisten, die Entscheidungen ihres Mannes beeinflusst hatte.
Jede geringe Bewegung verursachte Gesa Schmerzen, trotz des Opiats, das der Arzt ihr am Morgen verabreicht hatte. Und das betriebsame Durchschütteln von Kissen und Decken,
mit dem Lina, die gute Seele, ihre hilflose Sorge um die Herrin ausdrückte, hatte Gesa vor Anstrengung noch bleicher werden lassen, als sie ohnehin schon war.
Malvine folgte der Magd zur Treppe und trug ihr auf, nach dem Arzt zu schicken. Als sie Lina nachsah, die polternd auf Pantinen hinunter in die Küche rannte, überlegte sie kurz, ob sie es verantworten konnte, mit dem Herbeiholen des Pfarrers zu warten, und befand, diese Entscheidung Doktor Böhme zu überlassen.
»Sie müssen das nicht tun«, sagte Gesa, als Malvine sich über sie beugte, Stirn und Schläfen mit einem parfümierten Tuch abtupfte und ihr Pomade auf die Lippen gab, die vom schweren Atmen trocken geworden waren.
»Haben Sie nicht unterhaltsamere Besuche zu machen?«
»Möglicherweise, aber ich bin nun einmal entschlossen, Sie nicht allein zu lassen.«
Gesa stöhnte leise auf, als sie sich vom Rücken auf die Seite drehte.
»Ist es Ihnen denn vollkommen gleichgültig, ob es mir recht ist?«
»Sie wissen doch, wie starrsinnig ich sein kann.«
»Wie könnte ich das vergessen«, flüsterte Gesa. »Lesen Sie mir vor, wenn Sie schon unbedingt bleiben wollen.«
Malvine half ihr, das Buch, nach dem sie tastete, unter dem Kopfkissen hervorzuziehen.
»Möchten Sie eine bestimmte Passage hören?«
»Eine mit dem Käthchen natürlich. Suchen Sie etwas aus. Sicher kennen Sie das Stück auswendig.«
»Ach, Gesa«, sagte Malvine, »ich habe schon lange mit Ihnen über Elsa sprechen wollen. Um ganz und gar ehrlich zu sein, sollte ich sagen, dass ich vielleicht auch nur mein
Gewissen erleichtern will. Mir macht der Gedanke zu schaffen, dass ich Ihnen Elsa entfremdet haben könnte. Es täte mir unendlich leid, wenn es so wäre. Ich hoffe, Sie glauben mir, dass es nie in meiner Absicht lag.«
Ihre Hand zitterte leicht, als sie über den Einband des Buches strich.
»Und selbst wenn, dann war es doch nur zum Guten für Elsa«, flüsterte Gesa. »Clemens und ich … Wir haben Helenes Talente gefördert, indem wir sie an unserem Wissen teilhaben ließen. Es war so leicht. Keine große Leistung letztlich. Sie hat sich einfach für alles, was wir taten, interessiert. Aber Sie, Malvine, Sie haben nicht nur Elsas Talent gesehen. Sie haben Elsas Leidenschaft verstanden. Etwas, das ich nicht vermochte.« Sie rang nach Luft.
Ihr war Elsa fremd geworden, als sie vor Jahren vom Darmstädter Hof zurückkam. Natürlich hatte es nicht allein an ihrem veränderten Äußeren gelegen, das dem einer Porzellanpuppe glich. Sie hatte sich manieriert und dünkelhaft gebärdet, die kleine Schwester als gefälliges Publikum benutzt und es vorgezogen, in Malvines Salon Hof zu halten, statt sich im Elternhaus mit den nur fünf Zimmern tödlich zu langweilen. Clemens war es gelungen, besonnen zu bleiben - ihr nicht. Er hatte von einer Zeit jugendlichen Hochmuts gesprochen, die vorübergehen würde. Sie hatte den unverzeihlichen Fehler gemacht, Elsas Auftreten ernst zu nehmen. Sie glaubte ihrer damals neunzehnjährigen Tochter, als sie sagte, sie wünsche sich eine Mutter wie
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