Wiegenlied Roman
Heilbronn zugefallen war.
Das Klopfen eines der Küchenmädchen, das mit dem Frühstückstablett hereinkam und sich hastig wieder entfernte, riss Elsa aus ihren Gedanken. Sie nahm vor dem Fenster an einem ovalen Tisch aus poliertem Kirschholz Platz, und mit einem Mal erinnerten sie die weißen Musselingardinen an das Schlafzimmer ihrer Eltern.
Als kleines Mädchen hatte sie oftmals am Morgen in der Hofstatt am Fenster gestanden und auf die Rückkehr der Mutter gewartet. Wenn sie endlich kam und müde das Zimmer betrat, war Elsa hinter den Gardinen hervorgesprungen und hatte ein Lied gesungen. Jedes Mal tat die Mutter, als sei sie überrascht von der Anwesenheit ihres kleinen Mädchens, und während sie ihr Kleid aufknöpfte und den Haarknoten löste, bis er in einem langen Zopf zur Taille hinab fiel, lauschte sie der kindlichen Darbietung mit einem Lächeln, nach dem Elsa eine regelrechte Sucht entwickelte.
Das war, noch bevor Helene zur Welt gekommen war.
Vielleicht war sie deshalb Schauspielerin geworden.
Sie riss ein Stück von der vanilleduftenden Waffel ab und schob es sich in den Mund.
Morgen war Generalprobe, und sie würde zum ersten Mal in Berlin das Käthchen spielen. Und läg ich so, wie ich jetzt vor dir liege, vor meinem eigenen Bewusstsein da …
Sie studierte die Rolle seit Wochen, das Textbuch lag zwischen den Kissen in ihrem Bett. Niemals zuvor hatte sie, und sei es bei den ersten Proben, die Hilfe eines Souffleurs in Anspruch nehmen müssen. Doch nun war ihre Mutter am verabredeten Tag nicht in Berlin eingetroffen, und Elsas Konzentration war beim Teufel.
Dass sie rein gar nichts dagegen unternehmen konnte, selbst mit beständigem Lesen, bis ihr nachts die Augen beim Kerzenlicht tränten, verursachte ihr diese beschämende Wut, mit der sie am Morgen aufgewacht war.
Warum nur konnte ihre Mutter nicht pünktlich in Berlin eintreffen, wenn es doch auch dem Vater und Helene gelungen war, die seit vier Tagen im Goldenen Lamm logierten?
Elsa sprang vom Tisch auf, tauchte an der Waschschüssel die Zahnbürste ins Wasser, streute Pulver darauf und begann, sich zornig ihre ebenmäßigen Zähne zu putzen.
Vermutlich hatte sie irgendeine Frau in Kindsnöten nicht abweisen können, vielleicht kam ihr eine ängstliche Erstgebärende, eine achtfache Mutter mit schwacher Konstitution oder ein falsch liegendes Kind wichtiger vor, als ihre Tochter auf der Bühne des Königlichen Theaters zu sehen. Nicht ein einziges Mal hatte sie es fertiggebracht, Marburg zu verlassen, seit Elsa beim Theater war. Nur nach Wien war sie gereist, als Helene ihre Prüfung machte. Helene allerdings sagte, das habe ihre Mutter wegen Elgin getan. Vor vielen Jahren hatte sie mit dieser Frau nach Wien gewollt. Doch Elgin war
unter mysteriösen Umständen gestorben, und die Mutter hatte in Marburg ihre Nachfolge angetreten.
Malvine hatte Elsa die ganze Geschichte erzählt, lange bevor es Helene gelang, die Geschehnisse des Jahres 1799 in aller Ausführlichkeit von den Eltern zu erfahren. Nachdem sie alles über Elgin wusste, machte Helene sie zu ihrer Heldin. Sie war kaum dreizehn Jahre alt, da kannte sie das Lehrbuch der Hebamme, die über die Bildung eines Gelehrten verfügt haben musste, nahezu auswendig.
Elsa spülte ihren Mund mit Myrrhetinktur und spuckte aus. Sie verzieh sich ihre Anflüge von Eifersucht gegen Helene nicht. Ihre Schwester nahm aufrichtig Anteil an der bevorstehenden Premiere, trotz ihrer gescheiterten Pläne.
»Lieber Gott«, flüsterte Elsa und faltete die Hände fest vor der Brust, »bitte mach, dass ich, wenn Mutter da ist, spiele wie nie. Zwei Vorhänge mindestens nur für mich - man soll mich göttlich finden, und sie soll es mit ansehen. Die Zeitungen sollen es schreiben, sie soll es lesen und stolz auf mich sein, nur dieses eine Mal.«
»Sie müssen nicht hierbleiben, Malvine, am Bett einer schweißnassen alten Frau.«
Gesa versuchte, die schweren Federbetten von sich zu schieben, doch der Schmerz und Malvine geboten ihr Einhalt. Die Frau des vormaligen Bürgermeisters, der vom Landesherrn mit dem Titel eines Geheimen Rates geadelt worden war, verband mit Gesa eine langjährige Bekanntschaft. Diese hatte wegen ihrer gegensätzlichen Temperamente nie in eine Freundschaft münden können, was allerdings keine
von ihnen ernstlich beklagte. All die Jahre hatten sie eine Art irritierter Wertschätzung füreinander gehegt, die aus ihrer beider Zuneigung zu Elgin Gottschalk entstanden war. Vor
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