Wiener Requiem
fügte scherzend hinzu: »Ich habe Fräulein Schindler bereits von meinem ach so empfindlichen Zustand erzählt.«
Herr Meisner lächelte. »Na bitte, und was halten Sie davon, Fräulein Schindler? Würde Berthe die belebende kulturelle Atmosphäre der Hofoper nicht guttun? Selbst wenn es sich um Wagner handelt.«
»Aber Herr Meisner! Wagner ist der Gipfel der Kunst.«
»Ein Gipfel fürwahr, doch vielleicht auf einem weit entfernten Mond, Fräulein Schindler?«
Sie lachte. »Nein, Herr Meisner. Sie missverstehen mich. Wagner ist ein sehr irdischer Gipfel und für Frau Meisner vollkommen geeignet.«
»Und Sie sagten, dass sowohl Ihre Mutter als auch Ihr Vater verhindert sind?«, fuhr er fort.
»Ich hatte gehofft, Herrn Werthen überreden zu können, uns zu begleiten«, sagte Fräulein Schindler.
Herr Meisner schüttelte bloß den Kopf zu diesem Vorschlag.
»Unsinn. Karl ist viel zu sehr damit beschäftigt, diesen Schurken zu erwischen, bevor er noch mehr Unheil anrichtet. Ich dagegen bin ein alter Mann, der in der großen Stadt nichtsmit sich anzufangen weiß, und würde nur zu gerne zwei junge Schönheiten zum Gipfel der Musik begleiten.«
»Vater!« Berthe war jedoch nicht annähernd so entrüstet, wie sie sich anhörte.
Fräulein Schindler sah sie schelmisch an. »Also abgemacht, Frau Meisner?«
»Also …«, versuchte Berthe sich zu widersetzen.
»Du kennst Karls Musikgeschmack, er bevorzugt Sinfonien und Kammermusik«, fiel Herr Meisner ihr ins Wort. »Ich tue ihm also nur einen Gefallen, wenn ich an seiner Stelle zum
Tannhäuser
gehe.«
»Da hören Sie es, Fräulein Schindler. Mein Vater hat gesprochen. Wir freuen uns sehr, Sie begleiten zu dürfen.«
Werthens Gedanken waren in blankem Aufruhr. Er ging von Mahlers Wohnung zum
Café Frauenhuber
, wo er sich mit Gross treffen wollte, und hoffte, dass der bloße Rhythmus seiner Schritte ihm dabei helfen würde, Ordnung in das Chaos der Gedanken zu bringen.
Sobald er Mahlers Wohnung verlassen hatte, fiel ihm eine Bemerkung des Komponisten wieder ein. Tor war demnach erst am letzten Donnerstag in Altaussee angekommen. Zuerst hatte Werthen nicht verstanden, warum dies von Bedeutung sein könnte. Vielleicht hatte Tor unterwegs noch einen Freund besucht. Vielleicht hatte er, wenn auch unerlaubt, einen Tag Urlaub genommen. Verdient hatte er es, er hätte Werthen nur um Erlaubnis zu fragen brauchen. Welche Rolle konnte das schon spielen?
Doch während er weiterging, ließ ihn diese kleine Unstimmigkeit nicht los, bis er die wahre Bedeutung verstand: WennTor nicht vor Donnerstag in Altaussee angekommen war, hatte er am Mittwoch noch in Wien sein können. Am Tag des Überfalls in Werthens Büro.
Eine Straße weiter hatte Werthen jedoch eingesehen, wie vollkommen lächerlich diese Unterstellung war. Wenn Tor nach einem Dokument im Büro gesucht hätte – zum Beispiel den von ihm selbst verfassten Brief –, hätte er nur in Werthens Abwesenheit einmal alle Schubladen durchwühlen müssen. Dazu hätte er ausreichend Gelegenheit gehabt. Es hatte keinen Sinn, mit einem Einbruch Aufmerksamkeit zu erregen, alles auf den Kopf zu stellen und ihn dann auch noch niederzuschlagen.
An der nächsten Straßenecke erklärte Werthen dieses Argument wieder für null und nichtig. Denn vielleicht wollte Tor eben gerade die Aufmerksamkeit auf einen solchen Einbruch lenken, weil dann niemand ihn verdächtigen würde, und zwar aus eben den Gründen, die Werthen gerade dargelegt hatte. Mit anderen Worten, Tor hatte den Einbruch und Überfall auf Werthen begangen, um eine falsche Fährte zu legen und von sich abzulenken.
Werthen hatte mittlerweile die Ringstraße erreicht und steuerte durch das Gewirr von Gassen zu dem Café. Er erinnerte sich noch einmal an das Gespräch mit Natalie Bauer-Lechner letzten Freitag auf dem Bahnhof, als sie Mahler halbtot nach Wien zurückgebracht hatten. Auch sie hatte Mahlers Worte bestätigt. Werthen hatte es zu der Zeit gar nicht registriert, aber ganz offensichtlich war es ins Unterbewusstsein durchgesickert, wie die Nervenärzte es bezeichnen würden.
Natalie Bauer-Lechner hatte erwähnt, das Tor »gestern« angekommen wäre. Was Donnerstag bedeutete, nicht Mittwoch.Er hatte die Aussage zwar gehört, aber nicht weiter darauf geachtet. Erst jetzt hatte er die wahre Bedeutung dieser Tatsache erkannt.
Gross erwartete ihn schon im Café, er saß am selben Tisch wie an dem Tag, als sie Herrn Hanslick befragt hatten. Herr Otto, der
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