Wiener Requiem
Eindruck, als würde er jeden Augenblick explodieren; eine Vene an seiner Schläfe schwoll bedrohlich an und pulsierte beunruhigend schnell.
»Ich werde dies nur ein einziges Mal sagen, weil Sie für mich und die Meinen wirklich ein Fremder sind. Sie kennen den hohen Wert nicht, den ich der Ehrlichkeit und Loyalität beimesse. Also, um Ihre Frage zu beantworten: Nein, ein geistig gesunder Mensch hätte keinen Grund für eine Rache wegen irgendeines Unrechts, das ich Hans Rott angetan hätte. Die Kunst ist heilig, Werthen, verstehen Sie das nicht?«
»Ich bin leider nur ein Advokat. Erklären Sie es mir, Herr Mahler, bitte.«
Mahler schürzte die Lippen. Offenbar fand er den ironischen Kommentar überhaupt nicht amüsant.
»Die Arbeit eines Künstlers, in diesem Fall Rotts Kompositionen, sind wie eine Kommunion mit dem großen Unbekannten. Mit dem Geist, der das Universum beseelt. Solch ein Werk zu stehlen wäre eine schwere Sünde. Damit meine ich nicht Einflüsse. Wir alle werden von jenen beeinflusst, die vor uns gegangen sind. Wir rühmen diese Menschen, um ihren Einfluss auf unser Werk darzustellen. Aber jemandes Noten zu nehmen, Themen oder Melodien zu stehlen … Das ist vollkommen undenkbar. Können Sie das nicht verstehen?«
Werthen erwiderte nichts. Mahler wirkte aufrichtig.
»Also, nein. Ich habe keine Ahnung, warum irgendjemand in Verbindung mit Rott an mir Rache üben wollte. Ich habe ihn immer verehrt. Er war der
Reinste
aus unserer Generation. Vielleicht war er der beste Komponist, den ich je gekannt habe. Ein einfacher Mensch, aber Künstler durch und durch. Ich habe ihn nie verletzt. Tatsächlich war ich ihm gegenüber sehr großzügig in Gelddingen. Er war immer mittellos, ein Waisenkind, müssen Sie wissen. Er hatte zudem noch einen Bruder, den er unterstützen musste.«
»Wilhelm Karl«, warf Werthen ein. »Haben Sie ihn gekannt?«
Mahler schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn nie kennengelernt. Wenn ich mich recht erinnere, war er der jüngere Bruder. Er ist angeblich nach Amerika gegangen, wahrscheinlich auf der Flucht vor Gläubigern. Oder einem zornigen Vater.«
Werthen überdachte das eben Gehörte.
»Nun, mein lieber Advokat. Wenn es nichts Dringendes mehr gibt … ich muss mich auf eine Aufführung vorbereiten.«
»Nein wirklich, Fräulein Schindler. Ich kann eine solche Großzügigkeit nicht annehmen.«
Berthe war verblüfft ob der Ungezogenheit der jungen Frau. Wieder war sie unangemeldet erschienen und auch noch sichtbar enttäuscht, dass Karl sie nicht persönlich begrüßte. Berthe hielt sich zwar selbst für etwas unkonventionell, was gesellschaftliche Etikette anging, aber dies hier ging auch ihr zu weit.
»Nein, nein, Frau Werthen …!«
»Meisner«, berichtigte Berthe sie nachdrücklich. »Frau Meisner.« Sie hatte das Gefühl, dass diese junge Frau sehr wohl ihren Namen kannte, aber sich einfach weigerte, ihn zu benutzen. Vielleicht um die ältere Frau als die konventionellere dastehen zu lassen.
Diese Reaktion entmutigte die überschwängliche junge Frau keineswegs. Sie benahm sich wie ein junger Welpe, der gerade einen neuen Pantoffel zum Spielen entdeckt hatte.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie fröhlich, »Frau Meisner. Aber wie ich gerade sagen wollte, werden die Eintrittskarten verfallen, wenn Sie und Ihr Ehemann sie nicht nutzen. Meinen Stiefvater, Herrn Moll, hat eine unangenehme Sommergrippe erwischt, und Mama weigert sich, ihn allein zu lassen. Außerdem ist sie … indisponiert und fühlt sich wohler, denke ich, wenn sie den neugierigen Blicken der Gesellschaft entzogen bleibt.«
»Indisponiert?«, fragte Berthe, die genau wusste, wie sie diesen beschönigenden Ausdruck verstehen musste. Aber siebestand darauf, dass Fräulein Schindler selbst das Wort aussprach. Welch eine unangebrachte Prüderie, dachte sie. Als müsste man sich dafür schämen, ein Kind zu bekommen.
»Ich meinte schwanger«, rang sich Fräulein Schindler schließlich ab.
Dann überraschte sie Berthe, denn sie brach in Tränen aus.
»Auch die allerletzte Erinnerung an Vater wird jetzt verlorengehen«, stieß sie unter Tränen hervor.
Was immer Berthe auch von der jungen Frau halten mochte, diese Tränen schienen ebenso echt zu sein wie die lang aufgestauten Gefühle, die sie auslösten. Berthe erhob sich, ging zu ihr hinüber, setzte sich neben sie auf das Ledersofa und legte zögernd einen Arm um sie.
»Ist ja gut«, tröstete Berthe sie und wollte gerade etwas Idiotisches
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