Wiener Requiem
Adresse.
»Herr Ludwig Redl«, las Werthen. Die Adresse lag im Zwölften Bezirk.
»War das nicht der Bühnenarbeiter, von dem Blauer uns erzählt hat?«, sagte Gross. »Der den Mann wegen seiner Inkompetenz hatte entlassen müssen?«
»Ja genau, der muss es sein!« Jetzt fiel es auch Werthen wieder ein. »Tors Komplize?«
»Höchstwahrscheinlich. Man muss annehmen, dass Tor ihn mit der Ausführung der Anschläge beauftragt hat, also Farbverdünner in Mahlers Tee zu gießen und den Feuervorhang auf ihn niederstürzen zu lassen.«
»Aber Blauer hat angegeben, dass der Mann bereits gefeuert war, bevor der letzte Anschlag innerhalb der Hofoper stattfand, der Zusammenbruch des Dirigentenpultes. Angeblich war er nach Amerika geflohen, um dort ganz von vorne anzufangen.«
Gross tat dies mit einem Achselzucken ab. »Dieser Redl könnte das Pult doch schon lange vor seiner Entlassung manipuliert haben. Eine Sollbruchstelle, die irgendwann nachgibt. Er kann schon über alle Berge gewesen sein, als der vorgebliche Unfall dann wirklich passierte.«
Irgendetwas schien Werthen nicht zusammenzupassen, aber Gross’ euphorische Stimmung war einfach zu ansteckend.
»Wir sollten uns nicht beklagen, bloß weil wir dem Mann nicht die Handschellen anlegen konnten, Werthen. Manchmal kommt das Schicksal dem Kriminalisten eben zur Hilfe. Ich denke, es wird Zeit, dass wir Drechsler benachrichtigen.«
Drechsler, der mit zwei Polizisten im Schlepptau angerückt war, hörte sich die Erklärungen von Gross und Werthen bezüglichder wahren Identität Wilhelm Tors an. Er zog letztlich denselben Schluss wie Gross: versehentliche Vergiftung mit Arsen, das sich offensichtlich im türkischen Honig befunden hatte.
»Geschieht dem Kerl ganz recht«, fügte Drechsler hinzu. »Wir müssen noch auf den Bericht des Gerichtsmediziners warten, aber es ist eindeutig, dass der Mann eine große Menge von dem Gift zu sich genommen hat. Und genauso sicher ist es, dass diese Ladung hier mit den Süßigkeiten verwechselt wurde, die für Mahler bestimmt waren. Das sollte Meindl zur Abwechslung einmal glücklich machen.«
Die anderen Polizisten hielten sich mit der Armbeuge die Nase zu, um dem widerlichen Gestank zu entkommen. Sie warteten auf den Krankenwagen, der die Leiche in das im Keller des Allgemeinen Krankenhauses gelegene städtische Leichenschauhaus bringen sollte.
»Und Herr Redl?«, warf Gross ein.
»Sicher. Ich werde umgehend einige Männer zu dieser Adresse schicken, damit wir ganz sichergehen. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass der Mann sich immer noch hier herumtreibt und nur ein Gerücht über seine bevorstehende Emigration nach Amerika ausgestreut hat.«
Er nickte dem Ranghöheren der beiden Gendarmen zu, der diesen Einsatz wohl koordinieren sollte.
Drechsler lächelte fast, als Werthen ihn nun ansah.
»Nun, ich kann mir vorstellen, dass Mahler jetzt wieder freier atmen wird. Das hat er Ihnen zu verdanken.«
»Wohl eher der Unfähigkeit Tors«, wehrte Gross das Kompliment ab, doch man merkte ihm an, wie stolz er auf den glücklichen Ausgang des Falles war.
»Sie können also doch noch ein paar Urlaubstage mit IhrerFamilie verbringen«, sagte Werthen zu Drechsler. Der Kommissar nickte erfreut bei dieser Vorstellung.
»Ich gäbe meine Pension her für eine einzige ungestörte Nacht.«
Zwanzig Minuten später, nachdem der Krankenwagen die sterblichen Überreste von Wilhelm Tor fortgebracht hatte und die Concierge Frau Ignatz den Auftrag erhalten hatte, am nächsten Morgen für die gründliche Reinigung des Büros zu sorgen, gingen Werthen und Gross zurück in die Josefstädterstraße.
Es war ein wunderschöner Frühabend. Der Himmel über der westlich gelegenen Josefstadt färbte sich rosa mit einem Schuss ins Pfirsichfarbene. Gross pfiff ein paar Mozartmelodien: eine Arie aus
Cosi fan tutte
und ein, zwei Takte aus der
Kleinen Nachtmusik
. Er war ganz offensichtlich mit dem Ausgang des Falles sehr zufrieden. Werthen dagegen konnte sich eines leichten Unbehagens nicht erwehren.
Vielleicht war es ja nur das Gefühl eines enttäuschenden Abschlusses, weil sie den Mann nicht verhaftet hatten und ihn jetzt auch nicht mehr befragen konnten, um sich ihren Verdacht bestätigen zu lassen. Stattdessen würden sie sich mit einer reinen Deduktion zufriedengeben müssen, dass es sich nämlich in der Tat bei Wilhelm Tor um Wilhelm Karl Rott, den jüngeren Bruder von Hans Rott handelte. Er hatte wohl eine Art von Wahnvorstellung
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