Wiener Requiem
aufgrund des Überbisses. Dieser entstellende ererbte Schönheitsfehler war so kennzeichnend, als wäre Blauer selbst ein Habsburger.
Aber natürlich! Blauer war als der illegitime Bruder von Hans Rott ja auch ein Habsburger! Ganz klar und deutlich schossen ihr diese Gedanken durch den Kopf.
Karl hatte ihnen doch von dem außerehelich gezeugten jüngeren Bruder Rotts erzählt, der vermutlich der Nachkomme eines Adeligen war. Das würde Blauers erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Habsburger erklären.
Und die Art, in der er seine Hände über die Balustrade bewegte? Wie ein ausgebildeter Pianist und keinesfalls wie ein Operninspizient aus Ottakring.
Was wussten sie eigentlich genau über Blauer? Sie hattensich nicht die Mühe gemacht, seine Vertrauenswürdigkeit zu überprüfen, sondern seine Angaben zur Person für bare Münze genommen.
Und er saß in Mahlers Loge! Das war als persönlicher Affront gemeint. Wenn er so in aller Öffentlichkeit agierte, konnte dies nur bedeuten, dass er noch heute Abend zuschlagen wollte. Hier und jetzt wollte er Mahler töten, in der Hofoper und vor den Augen von Tausenden Musikliebhabern.
Mein Gott, das ist es!, sagte sich Berthe. Blauer hatte die Mittel und die Möglichkeiten für all diese Anschläge in der Oper gehabt. Und was seine Anwesenheit in Altaussee anging, würden sie später herausfinden, wo er sich während der Vorfälle tatsächlich aufgehalten hatte.
Jetzt jedoch musste sie schleunigst handeln.
Blauer beendete sein eigenartiges Klavierspiel, sprang von seinem Stuhl hoch und verließ eilig Mahlers Loge.
Berthe erhob sich ebenfalls.
»Was ist denn los, Berthe?«, sagte Alma.
Berthe gab ihr das Opernglas zurück. »Entschuldigen Sie, aber ich muss mich kurz frisch machen.«
Ihr Vater sah sie besorgt an.
»Es ist alles in Ordnung. Ich bin gleich wieder zurück.«
Was gab es auch sonst zu sagen? Dass sie vermutete, Blauer wäre aufgrund der Form seines Kinns und seines nervösen Fingerspiels der gesuchte Mörder? Man würde sie nur auslachen.
Sie war dem Inspizienten ja bereits vorgestellt worden. Also konnte sie wie eine Bekannte auf ihn zugehen und sich einfach mit ihm unterhalten, ganz zwanglos. Sie würde es herausfinden, so oder so.
Ihr war klar, dass ihr Verhalten nicht sonderlich sinnvollwar, aber das nahm sie in Kauf. Jetzt ließ sie sich nur noch von ihrem Instinkt leiten.
Werthen dachte nicht darüber nach, warum das Licht im Hause noch nicht gelöscht war. Irgendetwas musste eine Verspätung der Aufführung verursacht haben. Was auch immer es sein mochte – er war dankbar dafür. Durch die Verzögerung gewann er wertvolle Zeit. Seine Gedanken drehten sich weiter um die Informationen, die ihnen Herr Otto gegeben hatte. Dieses kleine Detail in der Beschreibung der Person, das er ihnen vergessen hatte mitzuteilen: Der Mann, der Werthen an dem Tag, an dem er überfallen worden war, vom
Café Frauenhuber
gefolgt war, trug einen Backenbart.
Also war es nicht Tor. Sondern jemand hatte es so inszeniert, dass der Verdacht auf Tor fallen musste. Und zwar ein Jemand, der noch immer frei herumlief und Mahler Schaden zufügen konnte. Und dieser Jemand war niemand anderes als Siegfried Blauer, der Inspizient der Hofoper.
Der Tod von Tor konnte nur eines bedeuten: Heute Abend wollte Blauer seine letzte Karte ausspielen. Werthen war sich dessen völlig sicher. Blauer musste aufgehalten werden, und das musste er selbst erledigen. Nachdem man Tors Leiche gefunden hatte, war der Polizeischutz von Mahler abgezogen worden. Weder Drechsler noch Meindl waren telefonisch zu erreichen. Der eine war zu seiner Familie in die Berge gefahren, der andere saß in diesem Moment irgendwo als Besucher in der Oper.
Werthen erreichte durch die menschenleeren Korridore des zweiten Rangs rasch die Geheimtür zur Bühne. Er sah sich kurz um, bevor er sie öffnete.
Nach einem Schritt befand er sich auf der metallenen Galeriehoch oben hinter den Kulissen. Unter ihm versuchte ein Hundeführer ein Rudel Hunde zum Gehorsam zu zwingen. Werthen wähnte einen Moment, Mahler zu erkennen, aber der Mann drehte sich herum und verließ den Raum durch eine Tür auf der anderen Seite.
Dann entdeckte Werthen Blauer, der gerade durch eine Fallklappe von der Hauptbühne in einen Raum unter die Bühne glitt. Werthen stürmte die Metalltreppe hinunter. Ein großer, schlaksiger Bühnenarbeiter tippte nur an seinen Hut, als er Werthen hinunter stürmen sah. Er nahm wohl an, dass Werthen zur
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