Wiener Requiem
Mahler eingeführten Hausregeln wurde dasLicht während der Aufführungen gelöscht. »Sehen und gesehen werden«, dieses Spiel war nun auf die kurze Zeit beschränkt, bis sich der Vorhang hob.
Berthe fühlte sich leicht und beschwingt, fast euphorisch. Alma und ihr Vater hatten recht, sie sollte wirklich mehr unternehmen.
Alma hatte ihr Opernglas auf dem Schoß.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen …?« Berthe deutete darauf.
»Aber gewiss, nur zu.« Alma gab ihr das Glas.
Behutsam justierte Berthe den Fokus, bis sie schließlich die Gesichter erkennen konnte. Dann ließ sie den Blick in einem Bogen durch den Saal wandern und erhaschte kurze, indiskrete Blicke auf die Besucher im ersten und zweiten Rang. Ein glitzerndes Diadem hier, strahlend weiße Zähne in einem lachenden Mund dort. Ein rotwangiger junger Mann mit einem Husaren-Schnurrbart und einem unbekümmerten Grinsen auf den Lippen winkte Berthe zu, als sie ihr Opernglas auf ihn richtete.
Doch plötzlich hielt sie inne, denn sie glaubte, jemand erkannt zu haben. Die Gestalt blieb einen Moment verschwommen, aber sie hielt das Opernglas nun fest an ihre Augen gedrückt, und es gelang ihr, den Fokus scharf auf diesen Mann einzustellen.
Herr Siegfried Blauer – unverkennbar mit seinen anachronistischen »Flohrutschen«, wie man diese Form der Koteletten liebevoll spöttisch nannte. Sie nahm das Opernglas einen Moment von den Augen, um festzustellen, wohin ihr Blick eigentlich gewandert war.
Er saß ganz allein im zweiten Rang, in Mahlers eigener Loge. Als sie wieder durch das Opernglas blickte, konnte siesehen, wie er sich in seinem Sitz nach vorne lehnte und seine Hände auf die in rotem Samt bezogene Balustrade legte. Dann begann er, die Finger zu bewegen. Zunächst schien es nur ein nervöser Tick zu sein, aber er hörte nicht damit auf, und plötzlich kam es ihr so vor, als spielte er in einem gleichmäßigen Rhythmus auf einer Klaviatur.
Was für ein merkwürdiger Mann, dachte sie. Ist es nur Zufall, dass er sich so schamlos in Mahlers Loge breitgemacht hat? Sie erinnerte sich gut an den Tag, als Regierungsrat Leitner sie und Karl auf einer Besichtigungstour durch die Oper geführt hatte. Er hatte recht unmissverständlich Mahlers Anordnung wiedergegeben, dass niemand außer ihm diese Loge benutzen durfte. Leitner selbst, der immerhin zur Opernverwaltung gehörte, hatte Mahler allerdings verheimlicht, dass er an dem Tag in der Loge gesessen hatte, als das Dirigentenpult unter Mahler zusammengebrochen war.
Berthe starrte immer noch hinauf zu der Silhouette des Inspizienten Blauer. Was tat der Mann eigentlich da oben? Man sollte doch annehmen, er gehörte hinter die Bühne, um dafür zu sorgen, dass alles in Bereitschaft war.
»Haben Sie jemanden entdeckt?«, sagte Alma.
Berthe lächelte ihr zu. »Nein, ich glaube nicht.«
Berthe wollte das Opernglas schon zurückgeben, aber Alma meinte, sie sei schon glücklich, einfach nur die in Gold gemalten bukolischen Szenen auf dem Vorhang betrachten zu können, während sie darauf wartete, den ersten Blick auf ihren geliebten Mahler werfen zu dürfen.
Berthe setzte die Erkundung des Hauses mit dem Opernglas rasch fort und entdeckte noch andere bekannte Gesichter. Herr Leitner saß in einer Loge im zweiten Rang dicht an derBühne, gegenüber der Loge Mahlers. Er unterhielt sich lebhaft mit einer üppigen, tief dekolletierten Dame, die einen fast schon vulgär großen Rubin um den Hals trug. War das seine Frau? Berthe bezweifelte es. Die wenigstens Männer unterhielten sich so angeregt mit ihren eigenen Ehefrauen. Dann erkannte Berthe die Person: Mahlers verflossene Geliebte Anna von Mildenburg, die an diesem Abend wegen einer leichten Erkältung selbst nicht auftrat. Offenbar war sie jedoch nicht so krank, dass sie sich die heutige Abendgala entgehen ließ. Die Sängerin lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Der Ausdruck um ihre vollen Lippen schwankte zwischen einem anzüglichen Grinsen und einem Lächeln.
Dann entdeckte Berthe nur zwei Logen weiter Justine Mahler und Natalie Bauer-Lechner, die beide eher grimmige Mienen zur Schau trugen. Nicht einmal ihnen war der Zutritt zum Olymp, Mahlers Loge, erlaubt. Natalie zupfte nervös an einer Granatbrosche, die sie am Ausschnitt trug.
Es ist wirklich faszinierend, dachte Berthe.
Fünfzehn Minuten später hatte die Oper noch immer nicht begonnen. Dafür hörte man lautes Hundegebell; es kam von irgendwo auf der Bühne, weit hinter den Vorhängen.
»Ich kann
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