Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wiener Requiem

Wiener Requiem

Titel: Wiener Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Jones
Vom Netzwerk:
unmöglich in der Kürze der Zeit gelöstwerden konnten. Blieb ihm also nur die Möglichkeit, die Bombe direkt an der Ladung zu entschärfen. Dafür hatte er vielleicht noch ein paar Sekunden.
    Werthen wusste, dass dies ein sehr kniffliges Manöver war. Er erinnerte sich noch gut aus seinen Jugendtagen daran, als er mit Stein, dem Gärtner, die Biberdämme in den Flussläufen auf ihrem Anwesen in die Luft gejagt hatte. Trennte man den falschen Draht zuerst ab, passierte dasselbe, als hätte man den oberen Stromkreislauf durchtrennt. Der Sprengsatz detonierte.
    Von der Batterie führten zwei Drähte zum Dynamit. Welcher war der richtige? Die positive Anode musste er zuerst durchtrennen, nur dann wurde die Stromzufuhr unterbrochen. Aber es war hier unter der Bühne viel zu dunkel, um die entsprechenden Zeichen für den negativen oder positiven Pol zu erkennen.
    Fieberhaft suchte Werthen den Boden nach Blauers Dolch ab, fand ihn und setzte ihn an den Drähten an. Seine Stirn war von Schweißperlen übersät, und von seinem Nacken rann ihm der Schweiß in den Hemdkragen. Welcher der beiden Drähte war der positive Pol?
    Die Bühne bewegte sich langsam und spannte die oberen Drähte.
    Welcher Draht zuerst?
    Den linken. Es musste der blaue sein. Er schloss die Augen, um sich Gärtner Stein vorzustellen, der mit seinen schwieligen Händen an den Sprengzündern hantierte.
    »Mach schnell!«, drängte Berthe, die mit einem schnellen Blick nach oben sah, wie sich allmählich die Verbindung zwischen dem Draht an der Drehbühne und dem an den Bühnenbrettern zu lösen begann.
    Es war keine Zeit mehr zum Nachzudenken. Werthen formte den Draht zu einem kleinen Bogen, steckte den Dolch hinein und schnitt ihn beherzt durch.
    Mein Gott, was hatte er getan? Er hatte den rechten Draht durchtrennt. Ein plötzlicher und instinktiver Sinneswandel. Nein, es war mehr als das. Ein Kinderreim war ihm in den Sinn gekommen:
» Links ist nichts, rechts ist am besten.
« Es war der Reim, den Stein ihm beigebracht hatte, um den positiven und den negativen Pol zu unterscheiden.
    Ausatmen. Atme aus! Ganz langsam ließ er seinen angehaltenen Atem ausströmen und spürte Berthes tröstliche Hand auf seiner Schulter.
     
    Gross sprach noch immer mit dem Saaldiener, als Werthen mit dem Lederbeutel voll Dynamit zum Eingang zurückkehrte.
    Der Saaldiener war mittlerweile sehr beflissen, hatte er doch in der Zwischenzeit den Brief des Prinzen Montenuovo gelesen.
    »Ist alles in Ordnung, mein Herr?«, fragte er devot, als Werthen und Berthe die Stufen hinunterkamen.
    Werthen überreichte dem verunsicherten Mann den Beutel.
    »Ja, ich denke,
jetzt
ist alles in Ordnung«, sagte er.
    Der Saaldiener öffnete den Beutel und schnappte vernehmlich nach Luft.
    »Sie sollten das lieber nicht fallen lassen«, sagte Werthen gelassen. »Dynamit ist ein verdammt tückisches Zeug.«
    Gross ließ sich keinerlei Verwunderung anmerken, dass Werthen nicht nur mit hochgefährlichem Sprengstoff, sondern auch in Begleitung seiner Frau zurückgekehrt war.
    »Sieht aus, als wären Sie beide gerade noch mal davongekommen.«
    »Das sind wir wohl, wir alle«, stimmte Werthen ihm zu. »Aber lassen Sie die Musik ruhig weiterspielen.«
    Als er Berthe jetzt in seine Arme schloss, machte sie keinen Versuch, sich zu befreien.

EPILOG
    Einige Tage später saßen sie am Nachmittag um den Biedermeiertisch in der Wohnung von Werthen und Berthe. Zum Kaffee gab es einen Gugelhupf von beeindruckender Größe und einen köstlichen, zarten Apfelstrudel. Frau Blatschky hat sich wieder einmal selbst übertroffen, dachte Werthen. Gross unterhielt sie bestens mit seiner Schilderung vom Verhör Blauers, das am Morgen im Polizeihauptquartier stattgefunden hatte.
    »Der Mann leidet ganz offenkundig unter Wahnvorstellungen. Er gibt Mahler an praktisch allem die Schuld, was in seinem Leben falsch gelaufen ist. Am Anfang steht für ihn der Tod seines älteren Bruders Hans. Aber wie es häufig bei Menschen mit gestörter Persönlichkeit vorkommt, besitzt er durchaus eine gewisse Genialität. Nachdem sein Spiel jetzt vorbei ist, zeigt er sich ausgesprochen kooperativ. Es bereitet ihm sichtliches Vergnügen, von seinen hochfliegenden Plänen zu erzählen.«
    Gross unterbrach seinen Bericht kurz, um sich ein Stück Kuchen schmecken zu lassen.
    »Zunächst einmal seine Tarnung als Blauer«, fuhr er dann fort, »als Autodidakt aus Ottakring, der es geschafft hatte, sich langsam bis zum Inspizienten der Hofoper

Weitere Kostenlose Bücher