Wiener Requiem
im Vergleich zu den anderen Melone tragenden Ganoven.
Prokop hatte seit ihrer letzten Begegnung einen Zahn verloren; Meier trug einen schmutzigen Verband an seinem kleinen Finger, dessen oberstes Glied zu fehlen schien. Prokop, der zumeist das Sprechen übernahm, hatte die hohe Stimme eines Chorknaben, was in seltsamen Gegensatz zu seinem Äußeren stand, das eher dem eines Boxers glich. Ihr Gespräch wurde regelmäßig durch das Rattern der Züge über ihnen unterbrochen. Die Weingläser tanzten auf dem abgenutzten Tisch, sobald ein Zug vorbeifuhr. Nachdem Werthen vorsichtig einenSchluck probiert hatte, überließ er sein Glas lieber diesem Tanz.
Man einigte sich auf ein Honorar und die Vorgehensweise: Die beiden Männer sollten Mahler einen halben Tag lang abwechselnd überwachen. Leitner hatte an der Hofoper angekündigt, dass die Vorstellung des heutigen Abends, die letzte der Saison, von Hans Richter dirigiert werden würde, da sich Mahler noch von seinen Verletzungen erholen müsse. Der Auftrag für Prokop und Meier beschränkte sich also zunächst darauf, die Wohnung des Komponisten zu beobachten. Klugerweise hatte Werthen eine neuere Photographie von Mahler mitgebracht, denn diese beiden hatten sicher noch nie von dem Mann gehört. Überraschenderweise stellte sich heraus, dass Meier ein großer Bewunderer der Operette war. Als man an der Hofoper
Die Fledermaus
von Strauß zum Gedenken an seinen Tod aufführte, hatte Meier die Vorstellung besucht und Mahler dirigieren sehen.
Die Abmachung wurde per Handschlag und mit einem großen Schluck Wein besiegelt.
Noch zwei Stunden später litt Werthen unter diesem Ritual. Gross und er waren auf dem Weg zu ihrem Treffen mit Anna von Mildenburg in ihrer Wohnung am Ring. Von Mildenburg wohnte im Sühnhaus, Schottenring 7, der nordwestlichen Hälfte des Boulevards. Die Adresse hatte einen unheilvollen Klang, denn das Wohnhaus war auf den Ruinen des Ring-Theaters gebaut worden, das 1881 niedergebrannt war und Hunderte von Zuschauer in den Tod gerissen hatte. Werthen konnte sich noch sehr genau an dieses Unglück erinnern. Als Jüngling war er zur Weihnachtszeit mit seinen Eltern in Wien gewesen. Sie hatten Eintrittskarten für
Hoffmanns Erzählungen
von Offenbachin der Abendvorstellung gehabt. Seine Mutter erkrankte jedoch an einer Darmgrippe, und sein Vater entschied, es wäre ungehörig, wenn der Rest der Familie – sein jüngerer Bruder Max lebte damals noch – sich vergnügen würde, während seine Ehefrau das Bett hüten musste. Dieses eine Mal war sein »Ehrenkodex«, mit dem Werthens Vater ständig nachäffte, was er für die Eigenheiten der Adelsschicht hielt, für sie von Vorteil gewesen.
Der Kaiser selbst hatte später den Bau des »Hauses der Sühne« angeordnet, ein prachtvolles Gebäude mit kirchenähnlichen Spitzbögen, das Elemente der Gotik und der Renaissance verband. Das Gebäude war in Wohnungen und Geschäftsräume aufgeteilt und verfügte über eine kleine Gedenkkapelle, die den dort Gestorbenen gewidmet war. Obwohl es eine elegante Adresse war, wurden im Sühnhaus häufig sehr kurzfristig Wohnungen frei, denn die Wiener waren ein abergläubisches Völkchen, deshalb war diese Anschrift nicht sonderlich beliebt. Doch für diejenigen, die wohlhabend genug waren und kurzfristig eine vornehme Unterkunft suchten, war das Sühnhaus eine bevorzugte Adresse. Die Sängerin konnte sich die monatliche Miete zweifelsohne problemlos leisten. Berthe hatte erzählt, dass die Mildenburg für die unerhörte Summe von 14.000 Gulden engagiert worden war. Das entsprach in etwa dem, was ein Referent des Kaisers verdiente.
Ihr Treffen war mit dem Agenten der Sängerin vereinbart worden. Seinen Namen hatte Berthe ganz leicht im jährlich neu aufgelegten Namensverzeichnis sämtlicher Künstleragenten gefunden. Sie hatte den Mann sogleich angerufen, noch während Werthen mit Prokop und Meier beschäftigt war. Der Agent und die Sängerin waren darüber informiert worden, dass Werthenund sein »Assistent« Gross im Auftrage Mahlers kämen. Die Art des Auftrages hatte Berthe allerdings wohlweislich im Dunkeln gelassen.
»Ihre Gattin ist wirklich eine ganz ausgezeichnete Errungenschaft«, hatte Gross gemurmelt, als sie die Josefstadt verlassen hatten, um zu ihrer Verabredung zu gehen. Aus dem Munde von Gross war eine solche Bemerkung wahrhaftig ein großes Lob.
Die Mildenburg wohnte im obersten Stockwerk mit Blick über den breiten Ring. Genau gegenüber lag die Börse,
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