Wiener Requiem
Mahlers. Aber Mahler zeigte schnell, dass er sein eigener Herr sein will. Er überlässt Leitner an keiner Stelle die letzte Entscheidungsgewalt, weder im Bereich der Finanzen noch in der Frage, wer engagiert und wer entlassen werden soll, oder bei irgendeiner sonstigen Entscheidung, die in der Verwaltung der Hofoper täglich zu treffen sind. Schon mehrfach hat Mahler Leitner schlicht übergangen und sich direkt an Prinz Montenuovo gewandt, um seinen Kopf durchzusetzen. Dann ist da natürlich noch der Inspizient, der Blauer. Der Bursche ist wahrlich aus hartem Holz geschnitzt. Mahler und er kommen in keiner Weise miteinander aus, sie sind wie zwei Seiten einer Medaille. Blauer macht keinen Hehl aus seiner Ansicht, dass die Anforderungen, die Mahler an eine Inszenierung stellt, viel zu ehrgeizig sind. Sie wissen sicher, dass Mahler ein Anhänger Appias ist«, fuhr Kraus fort und verwies damit auf den Schweizer Pionier des Bühnenbildes. »Mahler ist ein Verfechter des Realismus, der Dreidimensionalität des Bühnenbildes und einer authentischen Beleuchtung. Unsere Freunde hinter dem Vorhang der Hofoper würden hingegen viel lieber weitermachen wie bisher, mit dem Prinzip der einfachen Szenenfolge und allen anderen Traditionen der vorangegangenen Jahrhunderte.«
»Aber ist denn irgendeine dieser Beschwerden, seien es nun die von Leitner oder Blauer, so bedeutsam, dass …«
»… der Betreffende Mahler töten würde?«, beendete Kraus Werthens Frage. »Sicher nicht in einer geistig gesunden Gesellschaft. Wien ist aber nicht zurechnungsfähig.«
»Sehen Sie denn den Kreis der Feinde Mahlers auf das Umfeld der Hofoper beschränkt?«, fragte Gross vorsichtig, um zu keinen weiteren Abschweifungen Anlass zu geben.
»Wie heißt es doch gleich bei den Kriminologen?« Kraus blickte an die gewölbte Decke, als würde er dort nach der Antwort suchen. »Motiv und Gelegenheit. Das Letztere vor allem spricht für diese Männer. Aber es gibt natürlich andere, wenn auch mit deutlich eingeschränkter Möglichkeit, solche Anschläge durchzuführen. Eberhard Hassler, der Musikkritiker vom
Deutschen Volksblatt
, ist ein ausgesprochener Gegner Mahlers. Seine Kritik begründet sich vor allem auf dem Judentum Mahlers. Hassler gehört zur rabiaten Sorte der Antisemiten, seiner Ansicht nach zerstört Mahler die Musiktradition Wiens mit seinen ›orientalischen‹ Theorien, was auch immer das sein soll. Hier gibt es zwar ein Motiv, aber wenig Gelegenheit. Noch ein anderer kommt mir sofort in den Sinn. Peter Schreier, der Anführer der Claque. Er hat lautstark Verrat geschrien, als Mahler ihn und seine Kohorte von den Aufführungen ausgeschlossen hat. Mahler will nicht zulassen, dass ein Zwischenapplaus die Dynamik seines Dirigats zerstört. Aber Schreier und seine Freunde leben von diesem Applaus, sie werden dafür von den bereits etablierten wie auch den jüngeren Sängern gleichermaßen bezahlt. Schreier schrieb in einem Brief, den ich auf sein Drängen hin veröffentlichen sollte, es handele sich um eine Angelegenheit auf Leben und Tod. Man könnte also auch hier von einem Motiv reden und vielleicht sogar von einer Gelegenheit, da er sich auf und hinter der Bühne bestens auskennt.«
»Das müsste man doch auch über Hassler sagen können«, merkte Gross an. »Einem Musikkritiker wird doch sicher Zugang zu den Proben gewährt.«
Für einen Moment saßen die drei still beieinander, umgeben vom Stimmengewirr der vielen Gäste; Kellner im Smokingservierten mit elegantem Schwung Kaffee und Wasser auf kleinen Tabletts.
»Die Liste ist wirklich lang«, sagte schließlich Gross. »Und dies sind allein die offensichtlichen Möglichkeiten. Das ist wirklich ein ganz hoffnungsloser Fall. Und es gefällt mir ganz und gar nicht, dass die Quoten so deutlich gegen uns stehen.«
6. KAPITEL
Am nächsten Abend erhielt Werthen in seiner Wohnung einen Anruf von Mahler. Die Stimme des Komponisten hörte sich kräftig an, fast schneidend. Er schien merklich erholt von seinem letzten Unfall. Er teilte Werthen mit, dass er am Morgen nach Altaussee im Salzkammergut abreisen würde, um dort seine Sommerferien zu verbringen. Seine Schwester und er wollten dort in Gesellschaft ihrer Freundin Natalie für sechs Wochen ein abgeschiedenes Haus beziehen, die ungefähr eine halbe Stunde vom Dorf entfernte Villa Kerry. Mahler würde dort die Arbeit an seiner neuen Sinfonie wieder aufnehmen.
Er schilderte lebhaft das ländliche Wunder Altaussees, seine magische
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