Wiener Requiem
Gott, sie schicken mir sogar Briefe, in denen sie mich um handsignierte Portraits bitten. Demnächst werden sie mir mit Operngläsern nachspionieren.«
»Sie stellen doch keine Gefahr dar«, begann Werthen.
»Keine Gefahr? Diese Leute sind einfach unerträglich. Können sie mich nicht einfach in Ruhe meiner Arbeit nachgehen lassen? Und dieses infernalische Gedudel aus dem Dorf. Jeden Tag vor dem Mittagessen johlen und trompeten sie herum, und so geht es bis in den Nachmittag. Man kann nur um Regen beten, damit der wenigstens ihre Lebensgeister bändigt.«
Aufgewühlt trat Mahler an eines der Fenster neben der Eingangstür und spähte durch die Spitzengardine auf die aufdringlichen Besucher.
Dann drehte er sich herum und wandte sich wieder an Werthen. »Seien Sie ein guter Mensch und schicken Sie sie einfach weg.«
»Machen Sie sich nicht lächerlich, Herr Mahler. Ich bin gekommen, um Sie vor tödlichen Gefahren zu schützen, doch nicht vor Ihren Anhängern.«
»Aber diese Leute bringen mich um.« Seine Stimme klang verzweifelt. »Sie töten meine Kreativität. Was auf dasselbe hinausläuft. Ich habe in jedem Jahr nur sechs Wochen, um zu komponieren. Wie soll ich mich jedoch auf meine Vierte Sinfonie konzentrieren, wenn diese Eindringlinge durch die Fenster hereingaffen? Und dann dieser grässliche Lärm, der hereindringt.«
Werthen ging zu dem Fenster auf der anderen Seite der Tür und sah, dass die kleine Gruppe weitergegangen war. Zum Glück; befreite ihn das doch von einer lästigen Pflicht.Zwei Tage später lächelte Gross in Wien liebenswürdig die junge Dame an, die vor seinem Schreibtisch saß. Was für ein reizendes junges Ding, dachte er. Sonst hatten die Reize des schönen Geschlechts wenig Anziehungskraft für ihn. Adele und er waren seit Jahrzehnten verheiratet, er hatte sich an ein eher untätiges häusliches Wohlbehagen gewöhnt, soweit es um die fleischlichen Dinge ging. Eine tiefere physische Verbindung hatte es nie zwischen ihnen gegeben; Gross fand derartige Verbindungen eher anstrengend, außerdem störten sie ihn bei seinem wichtigsten Bestreben im Leben – ein System aus Nachweis und Analyse zu erstellen, um die Wissenschaft der Kriminologie zu revolutionieren. Adele musste wohl genauso fühlen, denn schließlich waren Frauen – sah man von wenigen Nymphomaninnen einmal ab – nicht dafür gemacht, die Betätigung im Schlafzimmer zu genießen. Nach der Geburt ihres einzigen Kindes, ihres Sohns Otto, hatten sie sich jenen vermeintlichen Freuden nicht weiter hingegeben. Als er Werthen und seine Frau besuchte, war er bestürzt zu erfahren, dass sie sich ein Schlafzimmer teilten. Ein eher unschöner Zustand, befand Gross.
Nein, zu den Fragen der Sexualität hatte Gross eine eher sokratische Haltung eingenommen. Er war jetzt in einem Alter der Vernunft und wurde von solchen Trieben nicht länger beherrscht oder auch nur berührt.
So hatte er jedenfalls bis eben gedacht.
Die Anwesenheit der jungen Frau Schindler auf der anderen Seite des Schreibtisches an diesem Montagmorgen jedoch lockte ihn aus seiner Deckung, machte ihn nervös und setzte einige lang schlummernde Gefühle frei. Er merkte, dass er ihr gefallen wollte und seine Blicke von ihr abwenden musste, alsob sie eine Art von Zauber auf ihn ausübte. Ihr Duft umgab ihn wie eine Wohltat, fast wie ein frisch gebackener Gugelhupf es vermochte.
Sie hatte zuvor angerufen und Berthe mitgeteilt, dass sie neue Informationen für den Advokaten Werthen habe. Da dieser nun aber anderweitig beschäftigt war, hatte Fräulein Schindler eingewilligt, mit Werthens Kollegen im Büro vorliebzunehmen. Wie zuvor saß Berthe neben der Tür und schrieb mit, als Gross das Gespräch begann.
»Also, junge Dame, wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ich hatte gehofft, mit Advokat Werthen sprechen zu können«, sagte sie und lächelte Gross kokett an.
»Ja, wie Frau Werthen Ihnen bereits mitteilte, ist er zur Zeit nicht abkömmlich.« Gross ignorierte Berthes zurechtweisenden Blick so beharrlich wie ihren wirklichen Namen.
»Nein, nein«, fuhr Alma fort. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich wollte sagen, dass ich keineswegs erwartet hatte, stattdessen mit dem hervorragenden Herrn Dr. Hanns Gross höchstpersönlich zu sprechen.«
Gross verzog bei dieser Bemerkung sein Gesicht zu einem etwas gequälten Lächeln. »Stets zu Diensten, mein Fräulein.« Er überhörte geflissentlich den Seufzer, der von Berthe kam. »Ich weiß, dass Advokat Werthen sich
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