Wiener Requiem
Hirschsteak labte. Die älteren Söhne, die ebenso blond und beunruhigend blauäugig in Lederhosen und strahlend weißen Hemden glänzten, machten sich als Bedienstete im Hotel nützlich. Sie arbeiteten am Empfang, trugen das Gepäck und halfen als Führer für abenteuerlustige Wanderer. Frau Wolf beaufsichtigte die Küche, während Herr Wolf der gute Geist und leutselige Gastgeber des Hauses war.
Die Eltern waren beide dunkelhaarig, so dass Werthen sich über ihre blonde Nachkommenschaft wunderte. Diese Verwunderung und seine kurzen literarischen Aufzeichnungen über die Familie waren die ersten Anzeichen der Rückkehr seiner schöpferischen Kräfte. So hielt er in kurzen Geschichten Stimmungsbilder von Österreich und den Österreichern fest. Vielleicht wäre es ja besser, dachte er, wenn ich meine Kreativität in andere Bahnen lenken würde. Er müsste alle Einzelheiten der Fälle, in die er nun verwickelt war, minutiös aufzeichnen und sich nicht in das Treiben einer geckenhaften Person wie dem Grafen von Hildesheim verlieren.
Nach dem Abendessen bezauberte die Familie Wolf ihreGäste mit Musikabenden. Sie sangen Alpenmelodien, begleitet von Herrn Wolf an der Gitarre und Frau Wolf am Akkordeon. Normalerweise war Werthen kein großer Anhänger dieses fiependen und oftmals schrillen Instrumentes, aber in den Händen von Frau Wolf verwandelte es sich in etwas fast Schwermütiges und Melodiöses.
Es war Samstag, das trostlose Alpenwetter schlug um. Dampf stieg von den von der Sonne gewärmten feuchten Wiesen auf. Werthen entschloss sich, den Mahlers einen Besuch abzustatten. Er war bislang nur am Nachmittag nach seiner Ankunft dort gewesen und war auf dem Rückweg zum Hotel bis auf die Haut nass geworden. Nur knapp war er den Gefahren eines Gewittersturms entkommen.
Zwei Tage später hatte sich erneut alles verändert, jetzt war das Wetter klar und schön. Singvögel begleiteten ihn auf seinem Weg über einen durchweichten Feldweg, der aus dem Dorf herausführte. Gelegentlich überholte ihn ein Ochsengespann, dessen Kutscher argwöhnische Blicke in seine Richtung warf, die Augen halb verdeckt von einem grünen Berghut, der mit einem Gamsbart geschmückt war. Sobald Werthen jedoch das traditionelle »Grüß Gott!« ausrief, schlug das Misstrauen in einen freundlichen Gruß um. In Wien vermied er diese Begrüßungsformel sorgsam und hielt sich lieber an das formale und neutralere »Guten Tag« oder »Guten Abend«.
Er näherte sich der Villa Kerry, als vom Dorf eine leise Melodie des Dorforchesters herüberwehte. Die Melodie wurde von der Tuba und den Klarinetten und Hörnern getragen und war ihm nicht bekannt. Als er in Sichtweite des von Mahler angemieteten Hauses kam, bemerkte er auf der Straße eine kleine Gruppe von drei Männern und zwei Frauen. Sie unterhieltensich angeregt und sahen erwartungsvoll hinauf zur Villa Kerry, als ob gerade ein Wachwechsel anstünde. Es mussten Stadtbewohner sein, denn die Frauen trugen lange weiße Kleider und schreckliche Schlapphüte, die kein vernünftiger Dorfbewohner je aufsetzen würde. Die Männer trugen Bowler, und ihre Stadtanzüge wirkten inmitten all des Grüns und der Blumen im vorderen Park der Villa Kerry ein wenig deplatziert. Im Vorübergehen erkannte Werthen den unverkennbaren Schönbrunner Dialekt. Zweifellos handelte es sich bei den Leuten um Wiener der Oberklasse. Einer der Männer, mit einem dramatisch gezwirbelten Schnurrbart, unterhielt sich mit den anderen. »Er sitzt jetzt gewiss am Piano und komponiert«, erklärte er ihnen. »Später unternimmt er zumeist einen Spaziergang. Vielleicht dann …«
Werthen hielt sich nicht damit auf, herauszufinden, worauf der Mann wartete. Offensichtlich stellten sie keine Bedrohung für Mahler dar; vermutlich handelte es sich um Musikverrückte, die dem Direktor der Hofoper und Komponisten ergeben waren. Hatten sie ihre Ferien so geplant, dass sie mit denen Mahlers zusammenfielen? Doch dann erinnerte sich Werthen, dass der elegante Kurort Bad Aussee ganz in der Nähe war; höchst wahrscheinlich hielten sie sich dort auf und machten eine Trinkkur.
Vor dem Haus wurde Werthen von Mahler höchstpersönlich empfangen. Der Musiker bat den Anwalt schnell herein und schloss umgehend die Tür hinter ihm.
»Haben Sie die Leute bemerkt?«
Seine Stimme klang beinahe panisch.
»Wen?«, fragte Werthen.
»Die Leute da.« Er deutete mit der rechten Hand in Richtungseines vorderen Parks. »Diese Parasiten dort draußen. Mein
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