Wiener Requiem
Karl ihm wie ein Hündchen hinterher.
Und sie hockte nun hier im Büro und kümmerte sich darum, dass Rechnungen bezahlt und Termine eingehalten wurden.
Berthe fragte sich unwillkürlich, ob dies vielleicht der Moment war, an dem ihr Leben auf eine falsche Bahn geriet. Sie hatte schließlich ihre eigene berufliche Karriere als Erzieherin und Autorin, doch seit ihrer Heirat hatte sie lediglich eineneinzigen Artikel verfasst – über die österreichische Friedensbewegung und deren weibliche Anführer. Selbst ihre Stunden im Gemeindezentrum von Ottakring hatte sie reduziert. Das Wiener Gemeindezentrum war nach dem Vorbild der von Mary Ward eingeführten englischen
settlement houses
geschaffen worden. Es setzte sich für die benachteiligten Kinder der Stadt ein, bot Unterricht und besondere Spielmöglichkeiten an. Berthe hatte in der Leitung mitgearbeitet, dafür gesorgt, dass das Zentrum auch für behinderte Kinder geöffnet war und in den Abendstunden für die aus der Arbeiterklasse stammenden Eltern kulturelle Veranstaltungen angeboten wurden.
Auch diese Arbeit hatte seit ihrer Vermählung gelitten. Sie verbrachte dort weniger Stunden, um dafür mehr in Karls Anwaltskanzlei aushelfen zu können. Ihre Schutzbefohlenen mussten allerdings nicht darunter leiden, da sie eine Reihe von Freiwilligen angeworben hatte, aber ihr selbst fehlten die Kinder. Und sie vermisste ihre Eigenständigkeit.
Karl hatte diese Opfer keinesfalls von ihr verlangt. Weit gefehlt. Er rühmte immer wieder ihre Leistungen. Allein Berthe glaubte, einen Beitrag für ihr gemeinsames Leben leisten zu müssen, damit sie als Paar nicht immer in parallelen Welten lebten.
Genug des Selbstmitleids, sagte sie sich, während sie die letzten Papiere zur Testamentseröffnung für von Bülow ablegte.
Zum Glück haben wir Ungar, dachte sie. Dr. Wilfried Ungar, Karls Assistent, war zwar ein arroganter junger Mann, aber er hatte sich zu einer tragenden Säule der Firma entwickelt, als Karl im letzten Jahr verletzt worden war. Und mittlerweile war Ungar von großer Wichtigkeit, da sich ihr Gatte entschiedenhatte, eine neue Richtung einzuschlagen und strafrechtliche Ermittlungen zu praktizieren.
Jemand klopfte leise an den Türpfosten. Die Tür stand offen.
»Ja?«
Dr. Ungar trat einen Schritt in den Raum. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht?«, sagte er.
»Ganz und gar nicht«, sagte Berthe. »Kommen Sie doch herein.«
Ungar versuchte älter auszusehen, als er mit seinen achtundzwanzig Jahren war. Er trug einen Kneifer und einen hochgezwirbelten Schnurrbart. Sein leichter grauer Anzug stand ihm gut und war weder zu auffällig noch zu bescheiden. Er sorgte dafür, dass die Klienten sich bei ihm in guten Händen fühlten. Sein Haar kämmte er mit einem tiefen Scheitel, um zu verbergen, dass es sich bereits lichtete.
Er setzte sich in den Stuhl für die Klienten, ihr gegenüber. Sie mochte den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht, Ungar wirkte, als würde er einer Beerdigung beiwohnen.
»Was gibt es denn?«
»Ich bedaure sehr, Frau Meisner, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ich meiner Stellung in dieser Kanzlei nicht weiter werde nachgehen können.«
»Aber warum denn nicht?«
»Es ist dieses neue Schild, Sie verstehen.«
»Schild? Welches Schild?«
»›Advokat Karl Werthen: Vermächtnisse und Treuhandangelegenheiten, Strafrecht und private Ermittlungen‹«.
»Ach ja«, sagt sie. »Dieses Schild.«
»Strafrecht, das könnte ich ja noch tolerieren, denn HerrWerthen hat diese Profession ja bereits in Graz ausgeübt. Aber Ermittlungen? Gnädige Frau, sehe ich aus wie ein Privatdetektiv? Wie soll ich mich noch erhobenen Hauptes unter den Kollegen bewegen? Um es kurz zu machen, ich sehe mich gezwungen, mich nach einer Position in einer seriöseren Kanzlei umzusehen.«
Berthe schwankte zwischen dem Wunsch, dem unverschämten jungen Mann eine Watschen zu geben, oder vor ihm auf die Knie zu fallen und ihn anzuflehen, dass er bleiben möge.
Sie entschied sich für einen Mittelweg. »Ich bedaure sehr, das zu hören«, begann sie.
Er hob die Hand, als wollte er ihre inständigen Bitten abwehren, die doch nun wohl folgen würden. Sie hatte jedoch nichts dergleichen im Sinn.
»Ich versichere Ihnen, gnädige Frau, dass man mich von meinem Entschluss nicht mehr abbringen kann. Ich schrieb Ihrem Mann in diesem Sinne, fühlte mich jedoch als Zeichen meiner Integrität bemüßigt, Sie auch persönlich über meine Entscheidung in Kenntnis zu setzen.«
»Das ist sehr
Weitere Kostenlose Bücher