Wiener Requiem
ihm hoch an, war sie es doch mehr als leid, Gross regelmäßig an ihren rechtmäßigen Namen erinnern zu müssen. Der spießige alte Kriminologe benutzte natürlich voller Absicht den falschen Namen. Es war seine Art, sein Missfallen über solch moderne Sitten zu bekunden. Herr Tor hingegen zeigte keinerlei Unbehagen, er schien auf solche Dinge kaum zu achten.
»Ich möchte nicht neugierig erscheinen«, fuhr sie fort,»aber ich finde es doch seltsam, dass ein Mann von solch offensichtlicher Qualifikation es nötig hat, sich um einen Arbeitsplatz als Kanzleiassistent zu bewerben.«
Weiter sagte sie nichts, da sie vermeiden wollte, ihrer Nachfrage zu viel Nachdruck zu verleihen.
Tor atmete tief durch. »Sicher, ich verstehe Ihre Besorgnis. Vorherrschend für meine Bewerbung ist mein Wunsch, in meine Heimat, an meinen Geburtsort zurückzukehren. Ich war zu lange ein Fremder in der Fremde. Als gebürtiger Österreicher habe ich meinen Abschluss in Deutschland gemacht. Ich habe viele Jahre im Ausland verbracht und habe, so könnte man wohl sagen, versucht, ein eigenes Leben zu führen. Ich bin mir bewusst, dass dies für eine erfolgreiche Karriere weder zeitgemäß noch besonders klug ist. Nach meinem Abschluss folgten Jahre, in denen ich auf der Suche war, ausgedehnte Reisen unternahm. In Amerika habe ich nicht juristisch praktiziert, sondern bin einfach meinen Eingebungen gefolgt. Zum Beispiel habe ich in Nevada im Bergbau gearbeitet, in Ohio Musikinstrumente verkauft, und in New York habe ich für eine deutschsprachige Zeitung gearbeitet. Vor zehn Jahren habe ich dann erkannt, dass ich in der Neuen Welt nicht finden werde, was ich suchte. Daraufhin bin ich nach Frankfurt zurückgekehrt und habe eine Stelle in einer Frankfurter Kanzlei angenommen. Im letzten Jahr verließ ich diese Firma und siedelte nach Linz über, um so meinem eigentlichen Ziel – Wien – näher zu kommen. Als ich dann ihre Anzeige sah, Frau Meisner, schien es mir, als würde ein Traum wahr werden.«
Für einen Mann wie Tor war dies eine sehr lange Rede gewesen, und er schien auch von seinem Wortschwall erschöpft, plötzlich jedoch entschied er sich, noch etwas anzufügen. Währender sprach, blieb sein Körper vollkommen ruhig, seine Hände hielt er auf dem Schoß.
»Ich bin kein ehrgeiziger Mann, Frau Meisner. Ich suche weder Ruhm noch Reichtum. Ich habe gelernt, der Sonne besser nicht zu nahe zu kommen. Einige der Menschen, die mir am nächsten standen und mir die liebsten waren, haben dies getan; die Folgen waren tragisch. Nein. Geben Sie mir einen dauerhaften Arbeitsplatz, an dem ich meine Ausbildung und meine Intelligenz nutzen kann, und ich bin ein glücklicher Mann. Ich habe weder die Absicht, eine eigene Kanzlei zu eröffnen, noch meine Kollegen zu beeindrucken. Das Schild Ihres Mannes am Eingang macht deutlich, dass es sich um eine Firma handelt, die in verschiedenen Bereichen arbeitet. Das kostet einen einzelnen Juristen viel Kraft. Ich schließe daraus, dass Sie jemand Solides und Bodenständiges suchen. Einen, der sich dem täglichen Geschäft, der Detailarbeit im Bereich der Testamente und Treuhandangelgenheiten widmet, und so Advokat Werthen die Möglichkeit gibt, die eher kriminalistische Seite zu verfolgen. Falls ich mich jedoch irre und Sie einen Mitarbeiter für das Strafrecht suchen, so müsste ich Ihnen bedauerlicherweise sagen, dass ich nicht der geeignete Mann dafür bin.«
»Nein, nein, Herr Tor, Sie sehen dies vollkommen richtig, wir benötigen Sie vor allem für den Bereich der Testamente und Treuhandangelegenheiten. Und ich weiß Ihre Aufrichtigkeit wirklich zu schätzen.«
Berthe schätzte dies in der Tat so sehr, dass sie Herrn Tor augenblicklich einstellte. Tor war einverstanden, schon am nächsten Tag zu beginnen.
Plötzlich dachte Berthe an das Telegram Ihres Mannes, dasspät am vergangenen Abend eingetroffen war. Ganz offensichtlich war Karl enttäuscht, seine Überwachung unterbrechen zu müssen, allein um nach Wien zurückzukehren und Mahlers Unterlagen zu holen. Tor musste ohnehin in diese Richtung reisen, da er nach Linz wollte, um verschiedene Dinge zusammenzupacken.
»Ich hätte da ein Bitte, die vielleicht ein wenig merkwürdig erscheinen könnte …«, begann sie.
»Worum handelt es sich?«, fragte er freundlich.
Sie erklärte die Umstände in Kürze, und Herr Tor antwortete, dass er mehr als bereit sei, als Bote für Herrn Werthen in Altaussee zu fungieren. »Dies würde mir auch die Möglichkeit
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