Wiener Requiem
musikalisches Genie, dem die Komposition von Liedern ewig währenden Ruhm einbringen würde, war 1897 im Alter von siebenunddreißig Jahren verrückt geworden und lebte nun in Niederösterreich in der Irrenanstalt im Alsergrund.
»Kurz bevor er in geistige Umnachtung fiel, hatte er Mahler noch besucht«, sagte Rosa. »Denn Mahler hatte zunächst versprochen, unsere Oper herauszubringen, dann aber sein feierliches Versprechen zurückgenommen.«
Berthe erinnerte sich nun: Rosa hatte das Libretto für Wolfs Oper
Der Corregidor
geschrieben. Die beiden waren während dieser gemeinsamen Arbeit schnell Freunde geworden. Als Mahler sich weigerte, die Oper zu spielen, kam Wolf völlig aus dem Gleichgewicht. Vor allen Leuten hatte er vor der Hofoper gebrüllt, Mahler sei entlassen worden und er selbst, Hugo Wolf, sei nunmehr der neu ernannte Direktor der Hofoper. Daraufhin wurde Wolf von seinen Freunden in die Anstalt gebracht.
»Eine schreckliche Zeit«, sagte Rosa, die diese Momente nochmals in Gedanken durchlebte. »Es war das Gefühl, betrogen worden zu sein, das ihn den Verstand verlieren ließ. Mahler und er waren so enge Freunde gewesen, und dann diese tiefe Enttäuschung.«
Berthe hatte von dieser Freundschaft nichts gewusst. »Wann haben die beiden sich kennengelernt?«
»Am Konservatorium. Sie waren beide arme, am Hungertuch nagende Studenten gewesen und haben zeitweilig sogar das Quartier geteilt. Man fragt sich, wie viele andere ehemalige Freunde Mahler verärgert hat.«
Diese flapsige Bemerkung Rosas verfehlte ihre Wirkung auf Berthe nicht. Weder sie noch ihr Mann, nicht einmal Gross, hatten diese Möglichkeit bisher auch nur in Betracht gezogen. Trotz der Anwesenheit der alten Freundin Mahlers, Natalie Bauer-Lechner, hatten sie bislang alle die Tatsache übersehen, dass Mahler die Jahre von 1875 bis 1880 in Wien verbracht und sich sein ärmliches Auskommen als Musiklehrer für junge Schüler verdient hatte.
Bislang hatten sich Karl und Dr. Gross auf die Menschen in Mahlers heutigem Leben konzentriert, die einen Groll gegen ihn hegen könnten. Was aber, wenn der Grund für diese Anschläge in der Vergangenheit lag und keineswegs in der Gegenwart?
Glaubte man Rosas Schilderung, hatte Hugo Wolf ein sehr starkes Motiv, Mahler umzubringen. Da er jedoch in der Irrenanstalt eingesperrt war, konnte man ihn wohl schwerlich zu den Verdächtigen zählen. Aber wer sonst aus diesen alten Zeiten hegte vielleicht einen ähnlich starken Groll? Wie viele andere frühere Bekannte mochten sich betrogen gefühlt und all die Jahre ihren Hass genährt haben? Man wird nun mal nicht im zarten Alter von siebenunddreißig zum Direktor der hochangesehenen Hofoper berufen, ohne dabei dem einen oder anderen auf die Zehen getreten oder andere Konkurrenten von der Erfolgsleiter gestoßen zu haben.
Dies war eindeutig eine neue Richtung für ihre Untersuchungen. Berthe konnte es kaum erwarten, schon bald mit ihrem Gatten darüber zu sprechen.
»Ich danke dir, Rosa«, sagte sie und streichelte die Hand ihrer Freundin.
Rosa fragte nicht nach, wofür der Dank war, sondern erwiderte einfach das Lächeln.
Am nächsten Morgen ging Gross zum Büro der Zeitung
Deutsches Volksblatt
in der Bäckergasse 20, im ersten Bezirk. Er hatte es jetzt eilig, in dieser Untersuchung endlich weiterzukommen. Eberhard Hassler war, wie Kraus angedeutet hatte, wegen seiner scharfzüngigen Kritiken ein potentieller Verdächtiger.
Es war Gross möglich gewesen, einige Kritiken zu lesen, und er musste zugeben, dass diese weit über die Grenzen der Musikkritik hinausgingen; Hassler griff Mahler persönlich an und sprach von dessen Zugehörigkeit zu einer
Religions-Rasse
: »Herr Mahler, so scheint es, will die Hofoper in eine jüdische Oper verwandeln, indem er unsere vorzügliche Einrichtung der Stimme einer Maria Renard und eines Dirigenten wie Hans Richter beraubt, um diese durch Juden wie die dürftige Sopranistin Selma Kurz und den unerfahrenen Dirigenten Franz Schalk zu ersetzen. Wo soll dies enden? Gibt es denn niemanden unter uns, der Herrn Mahler aufhalten kann, bevor dieser Schande über die edelste Institution des gesamten Kaiserreiches bringt?«
Vor allem dieser letzte Satz brachte Gross ins Grübeln; es schien doch so, als wollte Hassler jemanden zu einer Gewalttat gegen Mahler anstiften. Obwohl er von Kraus nicht viel hielt – der Journalist hörte sich einfach zu gern selbst reden, musste Gross zugeben, dass Kraus wirklich ein ausgezeichneter
Weitere Kostenlose Bücher