Wiener Requiem
Kenner der Wiener Verhältnisse war. Hassler war tatsächlich jemand, den man unbedingt einer Befragung unterziehen sollte.
Das Büro des Mannes lag im dritten Stock eines neoklassizistischen Gebäudes, in dem sich auch die anderen Räume der Zeitung befanden, die von der antisemitischen
Christlich Demokratischen Partei
herausgegeben wurde, deren Anführer,Karl Lueger, seit zwei Jahren der Bürgermeister Wiens war. Er ging durch die Doppeltüren, vorbei am neu eingebauten Fahrstuhl zum Treppenhaus, und gelangte so über fünf Treppenabsätze in das gewünschte Büro.
Er hatte zuvor angerufen, um einen Termin zu vereinbaren, aber Hasslers Sekretär hatte ihm beschieden, dass dies nicht möglich sei.
»Herrn Hassler«, so teilte ihm der Mann mit einer herrischen Stimme mit, »befragt man nicht, vielmehr führt er selber Befragungen durch.«
Gross glaubte an sich selbst wie an eine Naturgewalt. Er war davon überzeugt, dass ihm sein Ruhm vorauseilen würde, wohin auch immer er sich wendete. Jedermann würde demnach bestrebt sein, ihm behilflich zu sein, um welche Ermittlung es auch immer gerade gehen mochte. Und so kam dann die Zurechtweisung durch diesen noch grünen Privatsekretär wie ein Schock für ihn. Aber dadurch wollte er sich keinesfalls in seiner Ermittlung behindern lassen.
Gross war trotz seiner übertriebenen Selbstsicherheit auch ein Realist. Er nahm den Verweis des Sekretärs nicht persönlich; es war nichts als ein Hinweis auf den ärmlichen Verstand des jungen Mannes. Aber dies war auch der Grund gewesen, den Prinzen Montenuovo aufzusuchen. Ausgerüstet mit einem Brief des Prinzen, glaubte er jetzt, dass keine Tür Wiens ihm verschlossen bleiben würde.
Der Journalist wurde, so vermutete Gross, von demselben jungen Privatsekretär bewacht, mit dem er bereits am Telefon gesprochen hatte. Er schien kaum älter als ein Abiturient zu sein, aber Gross konnte mit eigenem zunehmenden Alter das anderer Menschen immer schlechter schätzen. Er hielt sich nichtmit Vorreden auf, sondern übergab dem Jüngling kurzerhand den Brief des Prinzen. Der zeitigte das gewünschte Ergebnis, denn der junge Mann kam umgehend von seinem Platz hervor und verschwand im sich anschließenden Büro. Keine Minute später war er zurück.
»Herr Hassler wird Sie nun empfangen.« Es war dieselbe hohe Stimme wie am Telefon.
Gross hielt sich auch nicht damit auf, Höflichkeiten mit dem jungen Mann auszutauschen, während dieser ihn in ein großes Eckbüro führte, dessen Wände übermäßig mit den merkwürdigsten Symbolen behängt waren: Ein ausgestopfter Hirschkopf hing über dem Diplom der Wiener Universität; Drucke von englischen Jagdszenen waren gerahmt von gekreuzten Säbeln; das Rot, Gold und Schwarz der Fahne des vereinigten Deutschlands spiegelte sich im markanten Farbspiel der Fenstervorhänge und Wandbehänge wider. Gross empfand die Dekoration als ziemlich übertrieben, aber das allein machte aus dem Mann gewiss keinen Mörder.
»Dr. Gross. Welch eine Freude, Sie persönlich kennenzulernen.«
Der Mann, der ihn begrüßte, passte hervorragend in die übertrieben symbolisch aufgeladene Umgebung: Eine Duellnarbe markierte seine linke Gesichthälfte von der Augenbraue bis zum Kinn, sein schwarzes Haar war mit einer schweren Pomade praktisch an den Kopf geklebt, und ein kurzer, borstiger Bart wuchs unter seiner großen Nase. Sein dezenter brauner Anzug dagegen war von sehr gutem Schnitt und verdeckte fast den Bauchansatz, der sich an der Taille zeigte.
Gross setzte sich in den gepolsterten Lederstuhl mit hoher Rückenlehne, den Hassler ihm angeboten hatte. Eine unförmigeSchreibmaschine stand zwischen ihnen auf dem Schreibtisch, so dass Gross seinen Stuhl verschieben musste, um einen direkten Blick auf seinen Gesprächspartner werfen zu können.
»Sie haben mächtige Freunde«, begann Hassler.
»Der Prinz ist mehr ein Auftraggeber als ein Freund. Aber mächtig ist er in der Tat«, erwiderte Gross.
»Sie kommen also in einer Angelegenheit, die den Hof betrifft? Ich bin nicht sicher, wie ich Ihnen diesbezüglich helfen kann.« Hassler lächelte liebenswürdig, woraufhin sich seine Gesichtsnarbe verzog.
»Eine Angelegenheit der Hofoper, um genau zu sein«, korrigierte ihn Gross.
Hasslers Liebenswürdigkeit verschwand augenblicklich. »Und man sendet einen Kriminologen, um dies zu besprechen? Welches Verbrechen habe ich denn begangen?«
Bevor Gross die Chance einer Erwiderung hatte, preschte Hassler weiter voran:
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