Wiener Requiem
komplizierten Angelegenheit.«
»Um ganz ehrlich zu sein, Euer Gnaden, handelt es sich um den vielleicht merkwürdigsten Fall, dem ich mich je gewidmet habe. Zum einen existiert gar kein wirkliches Verbrechen, das wir hier untersuchen, eher ist es so, dass wir bemüht sind, ein Verbrechen zu verhindern. Andererseits gibt es jedoch bereits zwei Tote, und meiner Ansicht nach sind beide Opfer der Person, die auch versuchte, Mahler zu töten. Die Untersuchung sollte sich deshalb zunächst auf diese beiden Todesfälle konzentrieren und auf weitere Vorfälle wie den Zusammenbruch des Dirigentenpultes.«
»Ich stimme Ihnen durchaus zu«, sagte Prinz Montenuovo. »So wie Sie mir den Fall nun darstellen, empfinde ich es als geradezu skandalös, dass nicht schon früher etwas unternommen worden ist. Mahler, großer Gott, er ist doch aufs Land gefahren. Wir müssen jemanden zu seiner Sicherheit entsenden.«
»Beunruhigen Sie sich nicht. Mein Kollege Werthen ist vor Ort in Bereitschaft.«
»Aber dies sollte doch Sache der Polizei sein. Sie sprechen davon, dass Kommissar Drechsler von der drohenden Gefahr überzeugt werden müsse. Das ist doch absurd. Überzeugungsarbeit wird man hier nicht mehr leisten müssen. Die Polizei untersteht dem Innenministerium und somit letztlich seiner Hoheit. Ich werde noch heute Morgen mit dem Kaiser sprechen.«
Dies war mehr als Gross hatte erwarten können, aber für einen Moment fühlte er sich dennoch etwas niedergeschlagen.Mit der offiziellen Übernahme des Falles durch die Polizei würden Werthen und er selbst an den Rand gedrängt werden. Er hatte sich jedoch bereits so an dem Fall festgebissen, dass er dies nicht zulassen wollte. Und was würde es für ihn persönlich bedeuten, wenn man ihm den Fall aus den Händen nähme? Eine vorschnelle Rückkehr nach Czernowitz, um dort in der sommerlichen Hitze und bei drückender Luftfeuchtigkeit zu verschmachten? Wirklich kein angenehmer Gedanke.
»Selbstverständlich müssen jedoch Sie und Ihr Kollege Ihre Untersuchung unabhängig von der Polizei weiterführen. Die Polizeibeamten neigen zuweilen dazu, stur vor sich hinzuarbeiten, Ihre Reputation dagegen, Dr. Gross, spricht für sich selbst. Dies ist jedoch nicht länger eine private Angelegenheit zwischen Ihnen und Herrn Mahler. Würden die Zeitungen davon erfahren, käme es zu einem schrecklichen Skandal. Nein, die Hofoper selbst wird Ihr Auftraggeber sein.«
Höflich lächelte Gross dem Prinzen zu, innerlich jedoch schrie er laut hurra.
Herr Tor schien ein durchaus liebenswürdiger Herr zu sein. Berthe empfand ihn als intelligent und zugänglich. Er war deutlich größer, als sie es erwartet hatte, ein kräftiger Mann mittleren Alters, mit traurigen Augen und einer breiten, fast knollenförmigen Nase. Es fehlte ihm zwar die Leichtigkeit eines Dr. Ungar im gesellschaftlichen Umgang, dafür jedoch hatte er offensichtlich auch nicht dessen übersteigertes Ego. Tatsächlich schien Herr Tor im Hinblick auf die gesellschaftlichen Konventionen ein eher hoffnungsloser Fall zu sein; direkt angesprochen, neigte er gar zum Stottern. Auch musste er ständig ausschnauben. Berthe bemerkte bald, dass er die eigentlich längstaus der Mode gekommene Angewohnheit hatte, Tabak zu schnupfen.
Mit einer gewissen Verlegenheit stellte sie fest, dass sie ihn dennoch gerne um sich hatte. Ein Mann, so schlicht und hilflos in den Gepflogenheiten der Etikette und doch ganz offensichtlich von lebhafter geistiger Begabung. Er wird zwar keine Strafsache vor Gericht vertreten können, aber er kann gewiss all die vorbereitenden Arbeiten sorgfältig erledigen, tröstete sie sich. Verträge und Testamente zu schreiben zählte zu den Arbeiten, die trotz der Erfindung der Schreibmaschine noch immer ausschließlich handschriftlich erfolgten. In der juristischen Profession setzten sich Neuerungen nur langsam durch; die Klienten schenkten einer soliden, kunstvollen Handschrift mehr Vertrauen als der nüchternen Schrift einer mechanischen Schreibmaschine. Und nach der Form seines Bewerbungsschreibens und der Vita zu urteilen, besaß Tor eine untadelige Schrift.
»Ihr Lebenslauf spricht für sich, Herr Tor«, sagte sie zu ihm. Bei dieser Bemerkung schien er sich etwas zu entspannen.
»Es freut mich, dass Sie so denken, Frau Meisner.«
Er hatte keine Miene verzogen, als sie vorher gebeten hatte, die Abwesenheit ihres Ehemannes zu entschuldigen und sich selbst mit ihrem Mädchennamen vorstellt hatte. Auch dies rechnete sie
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