Wiener Requiem
streichen. Die Frauen hätten ebenfalls eines Komplizen bedurft.
Weiter fügte Werthen Almas Namen noch der ersten Spalte hinzu, sie hatte ja zugegeben, bei Mahlers Probe in der Hofoper anwesend gewesen zu sein.
Die dritte Spalte, Mahlers Vergangenheit, war die kürzeste. Sie enthielt nur Hugo Wolfs Namen. Wahrscheinlich müsste die Untersuchung sich zunächst hierauf konzentrieren. Welche anderen Namen könnten noch in diese letzte Spalte gehören? Mehrere Fragezeichen sollten hier auf noch unbekannte Namen hinweisen.
Es waren so viele Möglichkeiten. Eine positive Auswirkung hatten ihre Bemühungen immerhin schon gehabt. Wie Gross berichtet hatte, war als Folge ihrer Untersuchungen Montenuovo wieder im Boot, und auch die Polizei war nun in die Ermittlungen einbezogen. Zumindest stand Mahler nun unter Polizeischutz.
Ein leichtes Klopfen an seiner Tür entriss ihn seinen Gedanken.
»Ja?«
Tor trat ein, in den Händen die restlichen Akten des Grafen Lasko.
»Ich glaube, dies vervollständigt die andere Angelegenheit«, sagte er und legte die Akten auf den Tisch neben Werthens Liste von Verdächtigen.
»Hervorragend«, entgegnete Werthen und blätterte kurz durch die Akten. Er nahm anerkennend Tors schöne Handschrift wie auch die gewählten Formulierungen zur Kenntnis.
Tor blieb kurz neben dem Schreibtisch stehen und überflog, wie Werthen annahm, die drei Spalten mit den Verdächtigen.
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
»Wäre es zu viel verlangt, wenn ich heute ein wenig eher das Büro verlassen würde, Advokat Werthen? Ich bin noch immer damit beschäftigt, mich einzurichten, und benötige diverse Dinge für meine Zimmer.«
»Aber natürlich, Herr Tor. Mit Ihrem Streifzug nach Altaussee in unseren Angelegenheiten haben Sie sich dies mehr als verdient. Nehmen Sie sich die Zeit, um alles zu regeln. Ich werden die Stadt in diesem Sommer nicht mehr verlassen.«
Tor lächelte, jedenfalls schien es Werthen so. Aber der Ausdruck wirkte fast wie eine Mitleidsbekundung, die man einem Familienmitglied bei einer Beerdigung ausspricht.
Armer Mann, dachte Werthen. Er ist wirklich quälend schüchtern. Aber er hat einen erstklassigen Rechtsverstand, sie konnten froh sein, ihn engagiert zu haben. Gut, dass Berthe diesen ungeschliffenen Diamanten entdeckt hatte, dachte Werthen, nachdem Tor das Büro verlassen hatte.
So war er in Gedanken also wieder bei Berthe und entschloss sich, zu ihr zu gehen, um sich zu erklären. Aber als er indas vordere Büro kam, entdeckte er eine Mitteilung auf ihrem Schreibtisch:
Karl, ich muss dringend einiges bei Gerngross besorgen. Wir sehen uns später zu Hause. B.
Er las die Zeilen noch ein Mal. Soweit er wusste, hatte Berthe noch nie einen Fuß in das neue Warenhaus Gerngross in der Mariahilferstraße gesetzt. Ein derartiges sogenanntes Kaufhaus wie in Amerika war ihr ein Gräuel, die Speerspitze eines Amok laufenden Kapitalismus, der ihrer Ansicht nach das Gefüge der Wiener Gesellschaft zerstören würde. Das würde alteingesessene, in Familienbesitz befindliche Geschäfte zwingen, über die Mittagszeit geöffnet zu bleiben, womöglich sogar an Wochenenden. Undenkbar.
Er stellte sich Berthes Schmährede lebhaft vor und musste schmunzeln. Tatsache war aber, dass sie niemals »einiges bei Gerngross besorgen« würde. Und sie wusste genau, dass er dies ebenfalls wusste.
Ihre verschlüsselte Nachricht war als eine ernste Ermahnung an ihn gedacht.
Hofrat Richard Freiherr von Krafft-Ebing, Dekan der psychiatrischen Fakultät der Universität von Wien, residierte in einem Eckbüro im dritten Stock des Universitätsgebäudes in der Ringstraße. Jeder Zentimeter darin wurde als Arbeitsplatz genutzt: Mit Glastüren versehene Bücherschränke standen an den Wänden und umrahmten die großen Fenster, die den Blick auf die Ringstraße freigaben. Auf seinem eher kleinen Tisch türmten sich Notizbücher, gebundene Journale und dicke Bücher, vieledavon aufgeschlagen, andere wiederum mit einer Vielzahl kleiner blauer Zettel gespickt.
Krafft-Ebing war mittelgroß, altmodisch gekleidet; sein kurz geschnittenes Haar war schon ergraut. Sein Bart war unter dem Kinn zu einem scharfen V geschnitten, und schon bei ihrem ersten Treffen im letzten Jahr waren Werthen seine grau-grünen Augen aufgefallen, die Licht zu versprühen schienen.
Gross und Werthen hatten den Neuropsychiater in einem früheren Fall konsultiert, und dessen Wissen betreffs der Ätiologie der Syphilis hatte
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