Wiener Requiem
sich als äußerst hilfreich erwiesen. Gross war mit ihm noch aus alten Zeiten in Graz befreundet, gemeinsam hatten sie dort Pionierarbeit in der forensischen Psychopathologie geleistet, es ging um die Erforschung mentaler Störungen, sofern diese von kriminologischer Bedeutung waren.
An diesem Samstagmorgen hatten sie ihn wegen eines anderen Auftrages aufgesucht. In seiner Eigenschaft als Hofrat war Krafft-Ebing auch für eine der führenden psychiatrischen Krankenhäuser Wiens zuständig, der Niederösterreichischen Staatlichen Irrenanstalt, in die Hugo Wolf eingewiesen worden war.
Nachdem man die üblichen Höflichkeiten ausgetauscht hatte, kam Krafft-Ebing zur Sache.
»In ihrer Nachricht erwähnten Sie Hugo Wolf. Zugegeben, er ist einer unserer berühmtesten Insassen. Ich bin mir allerdings nicht sicher, dass er noch compos mentis ist. Er ist im letzten Stadium der Syphilis, wie Sie sicherlich wissen.«
»Das war mir nicht bekannt«, sagte Gross.
»Tragischer Fall«, fuhr Krafft-Ebing fort und schüttelte denKopf. »Hat sich als junger Mann angesteckt. Offenbar seine Einweihung in die wunderbare Welt der Sexualität durch eine der zahllosen Prostituierten dieser Stadt. Ein großer Jammer. Sind Sie mit seiner Musik vertraut?«
Er kannte den Musikgeschmack seines Freundes Gross, der nach Haydn nichts mehr gelten ließ, und hatte daher die Frage gleich an Werthen gerichtet.
»Ich habe mehrere seiner Liederabende im Musikverein besucht«, erwiderte Werthen. »Er scheint mir schon so etwas wie ein Genie zu sein.«
»Schien«, verbesserte ihn Krafft-Ebing. »Seine Freunde und Förderer lassen es sich nicht nehmen, ihm ein teures Zimmer mit Aussicht auf den Stephansdom zu bezahlen. Ein großes Piano ziert den Raum. Aber das ist ein fruchtloser Versuch. Musik ist ihm jetzt verhasst. Den Blick aus seinem Zimmer hält er für ein Wandgemälde.«
»Nichtsdestotrotz«, sagte Gross, »wir würden gerne mit ihm sprechen, wenn es irgendwie möglich ist. Wir werden ihn keineswegs überstrapazieren.«
»Seien Sie gewarnt«, erklärte Krafft-Ebing. »Sie dürfen nicht viel erwarten. Ich werde die Verwaltung informieren. Bis Sie dort eingetroffen sind, sollte alles arrangiert sein.«
Das Staatliche Irrenhaus lag in der Lazarettgasse 14 in der Nähe des Allgemeinen Krankenhauses in Alsergrund im Neunten Bezirk. Es war ein schöner Tag, und so gingen sie zu Fuß dorthin. An der Universitätsstraße verließen sie den Ring und kamen zuerst am Allgemeinen Krankenhaus vorbei. Dort im »Narrenturm« waren noch bis vor vier Jahrzehnten die geistig Behinderten »behandelt« worden. Bei dieser Behandlung wurden die armen Seelen an die Mauern gekettet, in Eisbäder getaucht,und um ihnen ihre Angst zu nehmen, trugen sie Ledermasken.
Das Staatliche Irrenhaus wurde 1853 ganz in der Nähe eröffnet und verbesserte das Schicksal dieser Leidenden beträchtlich. Aber auch dort ereigneten sich skandalöse Vorfälle. So wurde 1865 der große Mediziner Ignaz Semmelweis nach einem Nervenzusammenbruch dort eingeliefert. Zuvor hatte er entdeckt, dass einfaches Händewaschen einen wirksamen antiseptischen Schutz gegen das Wochenbett- oder Kindbettfieber bewirken konnte. Nun starb er zwei Wochen nach seiner Einlieferung angeblich an einer Sepsis, ausgelöst durch eine bei einer Operation infizierte Hand. Werthen kannte allerdings die Wahrheit von einem die Familie vertretenden Anwalt, der leider erfolglos die Einrichtung verklagt hatte: Tatsächlich war Semmelweis an den Verletzungen durch die Misshandlungen gestorben, die ihm das Anstaltspersonal beigebracht hatte.
Sie gingen am Allgemeinen Krankenhaus vorbei und näherten sich der Kreuzung Spitalgasse, wo sie rechts abbogen.
Bis jetzt waren sie schweigend nebeneinander gegangen, doch nun räusperte sich Gross plötzlich.
»Sagen Sie, Werthen«, begann er, »meine Anwesenheit in Ihrem Heim bereitet doch keine Unannehmlichkeiten?«
»Was wollen Sie damit andeuten, Gross?«
»Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber gestern Abend verspürte ich eine gewisse frostige Atmosphäre. Ihre Frau Gemahlin war nicht sie selbst beim Abendessen. In ihrem Gespräch sprühte kein Funke. Es gelang ihr gerade mal, die Erbsen auf ihrem Teller mehrfach umzugruppieren. Ich weiß, ich bin selbst oft genug ein alter Brummbär. Zu meiner eigenen Verwunderung hält Adele es immer noch mit mir aus. Aber wasbleibt ihr schon anderes übrig, nicht wahr? Ich hätte jedenfalls Verständnis, wenn meine Anwesenheit
Weitere Kostenlose Bücher