Wiener Requiem
Ihrer Frau auf die Nerven geht.«
»Glauben Sie mir, Gross, es hat nichts mit Ihnen zu tun.«
»Ah, dann war es also Ihre Reise ins Salzkammergut? Sie mag nicht gern allein gelassen werden.«
»Auch das ist es nicht.«
Gross blieb stehen. »Also, was ist es dann? Ich möchte mich zwar nicht in Ihre privaten Angelegenheiten einmischen, aber irgendetwas beunruhigt Sie beide doch. Wenn es da etwas gibt, das Sie daran hindert, unserem Fall Ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken, ist es übrigens auch meine Angelegenheit.«
»Unser Fall!« Werthen war plötzlich gereizt. »Es handelt sich um meinen Fall, Gross. Ich habe um Ihre Mitarbeit gebeten, aber Sie haben nicht die Kontrolle übernommen.«
»Sehen Sie. Es passt nicht zu Ihnen, so die Kontrolle über sich zu verlieren. Etwas quält Sie, und das beeinträchtigt Ihr Urteilsvermögen. Ihre Gutmütigkeit geht Ihnen verloren.«
Zum Teufel mit dem Kerl!, dachte Werthen. Gross würde weiter herumstochern und schnüffeln, bis er eine Erklärung fand. Werthen wollte gerade zu einer neuen Tirade ansetzen, als er plötzlich verstand, worauf Gross anspielte. Schon viel zu lange hatte er dieses absurde Missverständnis zwischen sich und Berthe hingenommen.
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich Gross anzuvertrauen, ihm die wunderbare Neuigkeit ebenso wie seine unangemessene Reaktion darauf mitzuteilen.
»Aber das ist doch nur natürlich«, entgegnete Gross, nachdem er geduldig zugehört hatte. »Selbstverständlich sind Sie wegen der Reaktion Ihrer Eltern auf diese Neuigkeit besorgt.Natürlich wünschen Sie sich, Ihre Frau und der Nachwuchs mögen akzeptiert werden. Und vielleicht habe ich sogar eine Möglichkeit, dafür zu sorgen. Lassen Sie mich nur machen, alter Freund. Und wenn wir zum Mittagessen heimkehren, nein, wenn Sie ohne den elenden Dr. Gross zum Mittagessen heimkommen, dann nehmen Sie Ihre junge Frau in die Arme und sagen Ihr die Wahrheit. Sagen Sie Ihr, dass Sie nicht wegen der frohen Kunde, sondern wegen der Gedanken an Ihre Eltern gezögert haben. Teilen Sie Ihre Sorgen mit Ihrer Ehefrau, mein Bester. Die Ehe beruht darauf, dass man alles teilt.«
Werthen bezweifelte stark, dass sich Gross selbst an diese Richtlinien hielt. Er war nur zu gut vertraut mit den Verhältnissen in Gross’ Familie während der frühen Grazer Jahre und war davon überzeugt, dass der Kriminologe in seinem eigenen Haushalt als autokratischer Familienvorstand herrschte, auf seine Art ebenso tyrannisch wie Mahler. Werthen verzichtete allerdings auf eine Bemerkung in diese Richtung.
»Danke, Gross. Das ist wirklich ein guter Ratschlag.«
»Und machen Sie sich keine Gedanken über mein Mittagessen, das dann leider ausfallen muss«, fügte der Kriminologe hinzu. »Ich werden schon irgendwo einen Bissen finden.«
Werthen musste angesichts dieses unverhohlenen Bettelns um Anteilnahme lächeln. Es klang fast so, als wäre Gross ein Gassenjunge auf der Suche nach Brosamen.
»Das werden Sie ganz bestimmt.«
Sie setzten ihren Weg fort. Werthen fühlte sich nach ihrem kurzen Gespräch tatsächlich erleichtert. Jetzt konnte er seine ganze Aufmerksamkeit der bevorstehenden Ermittlung widmen.
Die Spitalgasse kreuzte bald die Lazarettgasse, und schonstanden sie vor den imposanten grauen Mauern des Staatlichen Irrenhauses.
»Erschießen Sie mich lieber, alter Freund«, murmelte Gross, als sie die Stufen zur Eingangstür hochgingen. »Sollte ich total überschnappen, lassen Sie nicht zu, dass man mich an solch einem Ort einsperrt.«
Es war wirklich ein Tag der Offenbarungen, fand Werthen, als sie durch die große Eingangstür an uniformierten Pförtnern vorbei zum Empfangsschalter gingen. Der dicke, rotwangige Beamte hinter dem Tresen trug eine dunkelblaue und rote Uniform, in der er wie eine abenteuerliche Mischung aus Husar und Bahnschaffner wirkte.
»Worum geht’s?«, fragte er, bevor Gross oder Werthen überhaupt die Gelegenheit fanden, ihr Anliegen vorzutragen. Auf dem kleinen Tisch vor ihm lag die aktuelle Ausgabe der
Reichspost
.
Krafft-Ebings Nachricht war offensichtlich rechtzeitig eingetroffen, denn der Mann änderte sofort sein aggressives und unwirsches Verhalten, als Gross sie vorgestellt hatte.
»Hier entlang, meine Herren. Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Der Herr Hofrat hat extra deswegen angerufen.«
Sie folgten dem rundlichen Mann über das Haupttreppenhaus durch einen Korridor zur Abteilung 2A. Durch die geschlossenen Türen drangen gedämpfte
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