Wiener Requiem
auf die schmale Brust des Komponisten.
»Ist das unbedingt notwendig?«, fragte Werthen.
Der andere Wächter sah ihn böse an. »Sie sollten jetzt lieber hier verschwinden. Sie haben schon genug Ärger gemacht.«
Gross nahm Werthen beim Arm. »Kommen Sie! Der Mann hat recht.«Gross hielt sein Wort und ließ Werthen und Berthe allein zu Mittag essen; er ging in ein Gasthaus in der Nähe. Frau Blatschky hatte ihren freien Nachmittag genommen, und so waren Mann und Frau endlich einmal allein. Werthen erklärte Berthe sofort, warum er auf die freudige Nachricht ihrer Schwangerschaft mit so wenig Begeisterung reagiert hatte.
Sie nahm ihn in die Arme. »Karl, wie kann ein so intelligenter Mann nur so töricht sein?«
Sie führte ihn durch den Flur zu ihrem Schlafzimmer. Er war etwas verwirrt, als er sah, dass sie sich entkleidete.
»Beeil dich«, sagte sie. »Bevor Frau Blatschky zurückkehrt und sich empört.«
Er stieg zu ihr ins Bett, nahm sie sanft in die Arme wie eine zerbrechliche Puppe. Dann drehte sie sich auf den Rücken und zog Werthen zu sich.
»Ich bin schwanger und nicht krank«, sagte Berthe und drückte ihre kühlen Hände auf seine Lenden. »Ich bin nicht zerbrechlich.« Sie schlang ihre Beine um seine, grub ihre Fersen in seine Oberschenkel und drückte sich gegen ihn.
Bald vergaß er seine Kavaliersmanieren, so versunken war er in der Bewegung seiner Hüften.
Später lagen sie verschlungen unter dem dünnen Sommerlaken. Sie schmiegte den Kopf auf seine linke Schulter.
»Du hast nicht wirklich erwartet, dass sich Mann und Frau neun Monate lang einander nicht mehr begehren, oder?«
Er hatte darüber überhaupt nicht nachgedacht. Es gehörte zu den Dingen, über die seine Eltern niemals sprachen, und in der Schule erfuhr man auch nichts darüber.
Jetzt richtete sie sich auf ihren Ellbogen auf und sah ihm direkt in die Augen.
»Sei nie wieder so dumm«, sagte sie erbittert. »Sprich mit mir. Glaube an mich. Versprochen?«
»Ich verspreche es.«
»Ich kann es gar nicht glauben, dass der langweilige Dr. Gross den Vorschlag gemacht hat«, sagte Berthe und tischte zwei Omeletts für ihr spätes Mittagessen auf.
»Genaugenommen hat er auch nicht gesagt: ›Treib es mit deiner Frau.‹ Eher schon, ›Nimm sie in die Arme‹ oder so etwas in der Art.«
Als sie ins Esszimmer gingen, hörten sie das metallische Klicken ihres Briefschlitzes an der Tür. Die Nachmittagspost.
Werthen stellte die Teller auf den Tisch und ging ins Foyer, um nach der Post zu sehen. Er überflog die Briefe, legte Rechnungen und Geschäftsbriefe auf den Tisch im Flur zur späteren Durchsicht. Ein Brief trug keinen Absender und war daher nicht so leicht einzuordnen. Er nahm ihn mit in das Esszimmer.
»Ich bin ausgehungert, entschuldige. Omeletts sind die einzige Nahrung, die ich zurzeit zu mir nehmen kann.«
Er setzte sich zu ihr und legte den Briefumschlag neben den Teller. Ihn beschlich ein eigenartiges Gefühl, weil es nicht üblich war, dass er Briefe ohne Absender erhielt.
»Willst du ihn öffnen oder ihn bewundern?«
Nachdem sie sich geliebt hatten, machte sie einen sehr munteren Eindruck. Und offenbar regte sich auch wieder ihr Appetit.
»Vielleicht sollten wir öfter Siesta halten.«
Seine Bemerkung brachte sie jedoch weder in Verlegenheit, noch konnte es ihre gute Laune dämpfen.
»Auf der Rückseite gibt es etwas, das man Lasche nennt«, sagte sie. »Es ist üblich, dass man sie aufreißt.«
Werthen tat wie ihm geheißen und entnahm dem Umschlag ein einziges Blatt. Es fühlte sich nach billigem Papier an, war grob und ungeprägt. Er faltete es auseinander. Es war eine kurze Mitteilung, hingekritzelt wie von einem Schuljungen. Die untere Hälfte der Seite war mit Noten versehen. Er legte den Schrieb zwischen sie auf den Tisch.
»Eigenartig«, murmelte Berthe zwischen zwei Bissen.
Werthen überflog die Notiz, las sie dann ein zweites Mal, um sicherzugehen.
»Mehr als eigenartig«, sagte er. »Regelrecht skurril. Falls das wahr ist …«
»Falls das wahr ist«, sagte Gross später am Nachmittag, nachdem er in die Wohnung zurückgekehrt war, »haben wir es hier mit einem Fall von historischer Bedeutung zu tun.«
»Die verstellte Handschrift könnte der Angelegenheit Glaubwürdigkeit verleihen«, bemerkte Werthen.
»Richtig«, sagte Gross. »Der Schreiber hat sich die Zeit genommen, seine oder ihre Handschrift zu verstellen. Was eines von beiden beweist: Entweder hat er eine sehr eigene
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