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Wiener Requiem

Wiener Requiem

Titel: Wiener Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Jones
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Handschrift, die ihn verraten würde, oder seine Handschrift ist uns bekannt. Beides oder eines von beiden könnte zutreffen.«
    »Ein Narrenstreich«, sagte Berthe. »Irgendjemand hat von unserer Untersuchung erfahren und macht sich auf unsere Kosten einen Spaß.«
    Weder Gross noch Werthen reagierten auf die Bemerkung. Gross las den Brief noch einmal laut vor:
     
    Sehr geehrter Advokat Werthen,
    Sie und Ihre Freunde sollten die Dinge aus einem größeren Blickwinkel betrachten. Mahler ist und war nicht der einzige Komponist in Wien, dessen Leben in Gefahr ist. Andere sind wegen ihrer Lasterhaftigkeit gestorben. Andere sogenannte große Musiker. Muss ich Namen nennen? Aber ich will nicht zu viel verraten. Wo bliebe das Vergnügen? Merken Sie sich nur, dass ich bereits zugeschlagen habe und auch im Namen der Kunst wieder zuschlagen werde!
     
    »Wie verstehen Sie die musikalische Notation?«, frage Werthen.
    »Ich bin kein Musiker«, antwortete Gross und hielt das Papier ins Licht, suchte aber vergeblich nach einem Hinweis auf den Hersteller.
    »Darf ich?« Berthe streckte die Hand aus, nahm den Brief und ging in das kleine, von ihr hergerichtete Musikzimmer hinüber, die frühere Dienstmädchenkammer. Sie bot gerade ausreichend Platz für ein Klavier. Sie setzte sich hin, legte den Brief vor sich und spielte die Noten ein erstes Mal, dann noch einmal.
    »Irgendwie kommt mir das bekannt vor«, sagte sie. »Fast wie die Melodie eines späten Quartetts von Beethoven. Aber es ist doch wohl eine originale Melodie. Ich vermute, dass der Briefschreiber auch dieses Fragment geschrieben hat.«
    »Merkwürdig«, sagte Gross.
    »Ein anderer Komponist«, grübelte Werthen. »Nun, wir haben in letzter Zeit tatsächlich zahlreiche Todesfälle erlebt. Erst Anfang des Monats ist Strauß gestorben.«
    »Und vor zwei Jahren Brahms«, fügte Berthe hinzu.
    »Bruckner starb im Jahr zuvor.« Werthen schüttelte den Kopf. »Aber sie sind alle eines natürlichen Todes gestorben?«
    »Dieser Weg führt in den Wahnsinn«, murmelte Gross. »Sollen wir jetzt jeden Musikertod der letzten zehn Jahre in Frage stellen? Das ist blanker Unsinn.«
    Doch Werthen war sich sicher, dass Gross’ Interesse sehr wohl geweckt war.

9. KAPITEL
    Im Verlauf des folgenden Tages bedrängte Gross immer stärker die Idee, ein Verrückter könnte tatsächlich mitten in Wien die berühmtesten Musiker der Zeit einen nach dem anderen ermorden. Den ganzen Tag über lief er in seinem Zimmer auf und ab, da ein für diese Jahreszeit ungewöhnlicher Regen ihn daran hinderte, nach draußen zu gehen. Berthe und Werthen hörten unablässig den unerträglichen Rhythmus seines Paradeschritts, der sie am Ende mit Schirmen bewaffnet aus dem Haus in den Regen trieb.
    Sie sprachen während ihres Spazierganges nicht über den mysteriösen Brief, sondern genossen den frischen Geruch der Stadt. Sie schlenderten die Ringstraße entlang. Der Regen fiel von den Platanen auf ihre schwarzen Schirme. Ein paar weitere unerschrockene Spaziergänger waren ebenfalls unterwegs, aber die Stadt war an diesem Tage noch ruhiger als an anderen Sonntagen.
    Als sie in ihre Wohnung zurückkehrten, hatte auch Gross endlich seine Zurückhaltung aufgegeben. Jetzt hatte er das Wohnzimmer mit Beschlag belegt und ruhte langgestreckt auf der Ledercouch, in einem seidenen Morgenrock über der Hose und einem weißen Hemd mit Schlips und Weste.
    »Wo sind Sie beide denn bloß gewesen?«, fragte er, als sie den Raum betraten. »Wir müssen unbedingt sogleich besprechen, welche Richtung unsere Untersuchung nun einzuschlagenhat.« Bei diesen Worten sprang er förmlich von der Couch und begann erneut, im Wohnzimmer auf und ab zu gehen.
    »Gross …«, begann Werthen, wurde jedoch sofort unterbrochen.
    »Ich kenne diesen Tonfall«, sagte der Kriminologe und blieb abrupt stehen. »Sie werden versuchen, mich auf den Boden der nackten Tatsachen zurückzubringen. Da spricht wieder der vernünftige Karl Werthen. Ich kenne diese Stimmlage nur allzu gut.«
    »Ganz offensichtlich brauchen Sie jemanden, der Sie wieder auf den Boden der Realität zurückholt«, sagte Werthen. »Wie können Sie auf Grund eines einzigen anonymen Briefes so überzeugt sein?«
    »Es ist dort vom Verbrechen des Jahrhunderts die Rede.«
    »Aber ist denn Ruhm so wichtig für Sie?«, fragte Werthen, der von diesem Zugeständnis sehr überrascht war. »Man sollte doch denken, dass Sie bereits eine ausreichende Berühmtheit erlangt haben.«
    »Es geht

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