Wiener Requiem
hier doch gar nicht um Ruhm, mein lieber Werthen. Sie haben mich völlig missverstanden. Nein, es geht um die Abscheulichkeit dieser Verbrechen. Die Wunder einer solchen Musik der Welt zu entreißen. Und warum das Ganze? Ein Moment des Hasses? Von wessen Lasterhaftigkeit spricht dieser Nichtsnutz eigentlich? Die der anderen oder seiner eigenen?«
»Aber, Gross, Sie haben doch sicher auch die naheliegendste Möglichkeit in Betracht gezogen, dass nämlich der Briefschreiber vorsätzlich falsche Angaben macht.«
»Sicherlich«, sagte er und wedelte mit seiner Hand, als wollte er eine lästige Fliege vertreiben. »Es könnte sich natürlich, wie Ihre Gattin behauptet, ganz einfach um einen dummen Scherzhandeln. Vielleicht fühlte sich einer der von uns an der Oper oder woanders Befragten gestört und will uns Ungelegenheiten bereiten, indem er uns einen Bären aufbindet. Oder einer der von uns Befragten ist selbst der Übeltäter und spürt, dass unsere Untersuchung ihm unangenehm nahe kommt und verfällt deshalb auf diese List.«
»Und dann gibt es natürlich immer noch die Möglichkeit, dass der Verfasser des Briefes psychisch labil ist«, setzte Berthe hinzu. »Jemand, dessen Selbstwertgefühl durch solche Hirngespinste gestärkt wird. Also eine Person, die in einer Irrenanstalt besser aufgehoben wäre.«
»Oder vielleicht jemand, der bereits in einer Irrenanstalt untergebracht ist«, sagte Gross nachdrücklich, als wollte er andeuten, der Schrieb könnte in irgendeiner Weise von Hugo Wolf stammen. »Aber ja, natürlich habe auch ich diese Möglichkeiten in Betracht bezogen, ich bin ja kein Dummkopf.«
Auch wenn Werthen an dieser positiven Selbsteinschätzung nichts auszusetzen hatte, nahm er ihm die Erklärung für sein Engagement keinesfalls ab.
»Ich habe gar nicht gewusst, dass Sie ein Liebhaber der modernen Musik sind, Gross. Ich dachte immer, die wirklichen musikalischen Errungenschaften endeten für Sie mit Haydn.«
Gross warf ihm einen giftigen Blick zu, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und nahm seinen Marsch wieder auf. An der Wiener Universität hatte Werthen Vorlesungen bei einem Juraprofessor besucht, der in genau derselben Weise hinter den Studenten auf und ab ging, wobei das Knarren der Bohlen der monotonen Stimme einen gewissen Rhythmus verlieh.
»Es ist unmöglich, mit Ihnen zu sprechen, wenn Sie weiterhin unablässig herumwandern«, sagte Werthen schließlich.
»Ich verschaffe mir so Appetit für das Mittagessen, denn Frau Blatschky hat mich wissen lassen, dass sie ihren ausgezeichneten Palatschinken zubereitet und dazu einen Hauch von Schokoladensauce versprochen.«
Sie überließen also Gross sich selbst und seinen »Übun gen «, um ihn später zum Mittagessen wieder zu treffen. Die Männer zumindest wussten Frau Blatschkys wunderbar leichte, mit Aprikosenmarmelade gefüllte Pfannkuchen zu schätzen, die mit einem frischen, moussierenden Moselwein serviert wurden.
Beim Kaffee waren sie dann endlich in der Lage, die neuen Entwicklungen des Falles zu besprechen. Das Essen hatte immer eine wohltuend besänftigende Wirkung auf Gross.
»Ich gebe zu«, sagte er, »dass ich etwas geblendet bin von der schieren Größe dieses Unterfangens. Dass jemand wirklich die größten Musiker Wiens nacheinander ermordet, ist ein Verdacht, der einfach die Phantasie anregen muss. Ich wäre nicht aufrichtig, würde ich ein paar niedere Beweggründe leugnen. Würde ich … würden
wir
ein solches Verbrechen aufklären, könnten meine kriminalistischen Leitsätze weltweit und praktisch über Nacht bekannt werden. Ich vermute, dass mich diese Motivation gewissermaßen antreibt. Aber lassen Sie mich auch sogleich anfügen, dass solche Verbrechen, wenn sie denn tatsächlich geschehen sein sollten, auch mein Verlangen nach Gerechtigkeit und Strafe auf den Plan rufen. Ein Schurke, der zu solchen Freveltaten fähig ist, muss zur Rechenschaft gezogen werden, alles andere ist undenkbar; würde es doch bedeuten, dass wir trotz aller Errungenschaften der Zivilisation noch immer im tiefsten Dschungel leben.«
Es war nicht nötig, auf diese kleine Rede zu reagieren. Sieklang einfach aufrichtig, denn das Streben von Gross galt schon immer sowohl der Gerechtigkeit als auch dem eignen Ruhm.
»Bin ich also vollkommen überzeugt von der Echtheit des anonymen Briefes?«, sagte Gross. »Nein, natürlich nicht. Glaube ich, dass es möglich wäre? Ja. Ist diese neue Spur es wert, verfolgt zu werden? Ja und noch einmal
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