Wiener Requiem
war zweiundsiebzig und gerade in eine kleine Wohnung im Oberen Schloss Belvedere umgezogen. Dort bemühte er sich blindwütig, den letzten Satz seiner Neunten Sinfonie zu beenden. Schon seit mehreren Jahren war es um seine Gesundheit schlecht bestellt, dennoch war es einziemlicher Schock, als seine Haushälterin seinen leblosen Körper entdeckte. Natürlich war er nie verheiratet. Er starb sehr einsam.«
»Gab es ein Testament?«, fragte Gross.
Kraus warf dem Kriminologen einen amüsierten Blick zu. Diese Rückfrage bestätigte Kraus’ Verdacht hinsichtlich der Ausrichtung ihrer Fragen.
»Aber ja. Alles war korrekt und ordnungsgemäß. Unterschrieben im Jahre 1893. Darin überließ er alle Handschriften der kaiserlichen Bibliothek. Ansonsten gab es wenig von Wert zu vererben. Er hatte einen beschwerlichen Weg hinter sich gebracht, der arme Bruckner.«
»Seine Unterstützung für Wagner hat er teuer bezahlt«, sagte Werthen.
»Allerdings«, stimmte Kraus zu. »Das hat ihm das musikalische Establishment, damit meine ich Hanslick und seine Gefolgsleute, nicht verziehen. Sie nannten seine Musik wild und unverständlich.«
Er spielte auf Eduard Hanslick an, den Doyen der Wiener Musikkritik, ein erbitterter Gegner der Musik von Wagner und allen Anhängern der neuen Musik.
»›Musik hat kein anderes Thema als die Verbindung der Noten, die wir hören. Die Musik spricht nur durch den Klang, sie besteht nur aus Klang.‹ Ich glaube, das ist eine angemessene Wiedergabe von Hanslicks Hauptargument«, sagte Kraus, zufrieden mit sich. »Er war demnach ein eingeschworener Feind der Romantik mit ihrer Betonung der Gefühle. Wagners Darstellungskunst und sein Einsatz der Musik zur weiteren Dramatisierung kollidierten mit allen Theorien des Kritikers. Aber Wagner hat es ihm heimgezahlt, wie Sie wissen, mit derclownesken und pedantischen Rolle des Beckmesser in
Die Meistersinger von Nürnberg
. Wagner hatte die Figur ursprünglich Hans Lick nennen wollen, aber auf Veranlassung seines Anwaltes änderte er den Namen. Natürlich war Wagner nicht das einzige Opfer von Hanslicks spitzen Bemerkungen. Auch Bruckner, der Wagner unterstützte und die große Sünde beging, von der klassischen Form abzuweichen, geriet unter seinen Bann. Hanslick ging sogar so weit, jegliche Aufführungen von Bruckners Musik zu verhindern, und nutzte seinen beträchtlichen Einfluss, um dem einfachen Organisten vom Land selbst das Unterrichten unmöglich zu machen. In dieser Hinsicht allerdings war Hanslick nicht ganz erfolgreich. Er konnte zwar verhindern, dass Bruckner zum Professor an der Wiener Universität ernannt wurde, aber er durfte Orgel und Kontrapunkt am Konservatorium unterrichten. Ich glaube, Ihr Freund Mahler war ein Student und früher Anhänger, wie übrigens auch Hugo Wolf, ein weiteres Opfer von Hanslicks kritischem Gift.«
Jetzt konnte Werthen plötzlich die Verbindung herstellen: Hanslick war der Mann, der bei der Trauerfeier für Strauß mit dem Zylinderhut seinen Blick verstellt und ihn dann des Taschendiebstahls verdächtigt hatte.
»Ich erinnere mich, wir sind uns schon einmal inoffiziell begegnet«, rief Werthen aus und berichtete dann von den seltsamen Umständen dieses Zusammentreffens.
»Sehen Sie sich vor, oder Sie werden eines schönen Tages aufgespießt in einer seiner Kolumnen enden«, meinte Kraus. »Obwohl er schon fast im Ruhestand ist, schießt er von Zeit zu Zeit immer noch einen vergifteten Pfeil ab. Es ist allerdings eigenartig, dass er überhaupt auf Strauß’ Beerdigung war. Für dessen Musik hatte er nichts übrig.«
Gross hatte ruhig den scheinbaren Abschweifungen zugehört, aber jetzt mischte er sich in das Gespräch ein.
»Wurde eine Todesursache veröffentlicht?«
»Nein, nichts dergleichen. Aber wie ich schon sagte, war Bruckner in den letzten Jahren seines Lebens krank. Ein sonderbarer Mann. Grässlich gekleidet, wie ein Schulmeister aus der Provinz. Was sein Vater auch tatsächlich war. Bruckner interessierte sich nur für Musik, Orgelspiel und Komponieren. Den gesellschaftlichen Gepflogenheiten einer Großstadt stand er ziemlich hilflos gegenüber. Man erzählt sich die reizende Geschichte, wie Bruckner einmal Hans Richter ein Trinkgeld in die Hand gedrückt hat, nachdem dieser mit großer Sorgfalt seine vierte Sinfonie dirigiert hatte.«
»Und Brahms?«, setzte Gross nach.
»Das war etwas unkomplizierter. Er starb an Leberkrebs, dasselbe Leiden, das schon seinen Vater dahingerafft hatte. Das war
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