Wiener Requiem
Treue bis ans Ende und war einer der bedeutendsten Trauergäste auf ihrer Beisetzung. Die übrigens weniger als ein Jahr vor Brahms’ eigenem Tod stattfand.«
Kraus lächelte sie an. Offensichtlich war er von seinem verblüffenden Erinnerungsvermögen genauso amüsiert wie vom Interesse, das Werthen und Gross seinen Geschichten entgegenbrachten.
»Und da wir gerade von Clara Schumann sprechen, es gibt da noch etwas Interessantes über Brahms. Sie war seine einzige wahrhaftige Vertraute. Max Kalbeck selbst hat mir diese Geschichte erzählt.«
Er sprach, Werthen hatte dies sogleich verstanden, von dem wohlbekannten Musikkritiker und langjährigen Freund von Brahms, der an einer monumentalen Biografie des Komponisten arbeitete.
»Kalbeck berichtete mir von einer privaten Mitteilung an Frau Schumann bezüglich Hanslicks Opus magnum,
›Die Schönheit in der Musik‹
. Hanslick gegenüber war Brahms voll des Lobes, aber Clara Schumann gestand er, das Buch sei so dumm, er habe aufgegeben, es zu lesen, und hoffe nur, dass Hanslick ihn nicht auf die Probe stellen würde.«
Es trat ein Moment völliger Stille ein, als die Tragweite dieser Geschichte langsam einsickerte.
»Sie haben uns wirklich einiges zum weiteren Nachdenken gegeben, Herr Kraus.«
Mühsam wuchtete sich Gross aus seinem Stuhl. Sie hatten recht lange dort gesessen, und auch Werthen fühlte einen Stich in seinem rechten Knie, als er aufstand.
»Danke, Kraus«, sagte Werthen aufrichtig.
»Nicht der Rede wert«, erwiderte der Journalist, der sich nun ebenfalls hinter seinem Schreibtisch erhob. »Das gibt den grauen Zellen die Gelegenheit, sich darzustellen. Aber Sie müssen mich unbedingt informieren, sollten Sie jemals all diesen Rätseln auf den Grund kommen.«
»Das werden wir tun, Herr Kraus«, sagte Gross. Er setzte seinen Bowler auf und verließ munteren Schrittes das Büro.
In der Kanzlei in der Habsburgergasse ging Berthe die Nachmittagspost durch. Der Brief Mahlers war wohl von größeren Umschlägen verdeckt worden, sonst hätte sie ihn zuerst geöffnet. Seine Handschrift war ordentlich und genau, ganz anders als seine zerzauste äußere Erscheinung. Sie überflog ihn schnell, es ging darum, dass der Komponist weitere Änderungswünsche bezüglich seines Testamentes hatte und Karl bat, so schnell wie möglich zu kommen.
Wohl kaum, dachte sie. Stattdessen würde sie Tor entsenden, und zwar am Wochenende, nicht früher. Schließlich war Mahler nicht ihr einziger Klient, auch wenn er sich so aufführte. Ihr kam es ziemlich offenkundig vor, dass Mahler sich viel zu sehr auf ihren Ehemann verließ. Sie fragte sich sogar, was wirklich hinter dieser plötzlichen Änderung seines Testamentes steckte. Wahrscheinlich benutzte er es nur als eine Ausrede, um Karl in seinen Kreis zurückzuholen.
Nein, das Wochenende war früh genug. Sie brauchte Tor für den Rest der Woche hier in Wien, damit er sich um die zahlenden Kunden kümmerte. Während Karl zusammen mit Gross Gespenstern hinterherjagte, mussten sie hier den Arbeitsrückstand aufarbeiten.
Es war zwar ein unfreundlicher Gedanke, aber er war dennoch wahr. Hirngespinste. Geister. Phantasieausgeburten einer verblendeten Seele. So schätzte sie den anonymen Brief ein. Und in der Zwischenzeit hatte sie in ihren Gesprächen mit Rosa Mayreder und Emma Adler einige recht brauchbare Ideen bezüglich der weiteren Ermittlungen entwickelt.
Leg es aufs Eis, Liebling, hatte Karl ihr heute beim Mittagessen geraten. Gross und ich sind vielleicht auf einer heißen Spur.
O nein, sie war fest entschlossen, nicht zu warten. Sie würde ganz gewiss nicht den Büroesel spielen, während ihr Ehemann und Gross sich eine schöne Zeit machten und gegen Windmühlen kämpften. Sie wusste, mit wem sie zunächst reden musste: Natalie Bauer-Lechner. Die Dame, die alles über Mahler aus der Zeit am Konservatorium wusste. Nur war die bei Mahler in Altaussee.
Vielleicht konnte sie selbst ja anstelle von Tor zu Mahler fahren. Damit würde sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Ein säuerlicher Geschmack in ihrem Mund schreckte sie auf. Nein!, dachte sie. Nicht jetzt. Nicht hier!
Aber sie hatte keine Wahl.
Berthe schaffte es gerade noch zur Gemeinschaftstoilette im Treppenhaus, bevor sie Frau Blatschkys wunderbares Mittagessen ausspuckte.
Mein liebes Kind, dachte sie, als sie ihre zerzauste Frisur im Spiegel sah und dann ihren Mund mit kaltem Wasser ausspülte. Ich hoffe, du bist es wert.
Doch dann konnte sie fast
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