Wiener Requiem
das kleine kostbare Leben in sich spüren, und sie wusste, dass es jede Mühsal lohnen würde.
11. KAPITEL
Weiches rosiges Licht drang durch einen Spalt in den schweren Vorhängen ins Zimmer hinein. Werthen war gerade aus einem Traum erwacht, der ihn zurück in seine Kindheit auf das Anwesen seiner Familie in Niederösterreich geführt hatte. Er ging darin mit Stein, dem Wildpfleger und Faktotum auf dem Gut der Werthens, einer seiner liebsten Freizeitbeschäftigungen nach: dem Sprengen der Biberdämme. Diese wurden regelmäßig von den Bibern in die Bäche gebaut, die die verschiedenen auf dem Gelände des Gutes verstreut gelegenen Teiche speisten. Karls Vater, Herr Werthen, beobachtete mit Vorliebe die Zugvögel, die sich an den Teichen niederließen, manche nur für paar Stunden, andere dagegen für Tage oder Monate. Doch die Biberdämme verhinderten den Zulauf frischen Wassers und somit auch die natürliche Filterung des Wassers. Wenn man sich nicht um die Teiche kümmerte, würden sie schon innerhalb weniger Wochen zu stinken beginnen. Also holte der alte Stein alle paar Wochen die Dynamitstangen hervor, die er im Geräteschuppen unter Verschluss hielt und sprengte die größeren Dämme in die Luft. Die kleineren zerstörte er mit den Händen.
Der Wildhüter kannte sich gut aus mit Dynamit und wusste, wie man eine Ladung anbringen und aus der Ferne zünden musste. In seinem Traum beobachtete Werthen Steins schwielige Hände, wie sie die roten und blauen Drähte mit der großen Geschicklichkeiteines ausgezeichneten Geigers befestigten. Trotz seines hohen Alters vermied Stein die altmodischen Zünder, die man mit einem Sicherheitsstreichholz entzündete; er bevorzugte eine mit Batterie betriebene Sprengkapsel. Und zu seiner großen Überraschung erlaubte Stein dem jungen Werthen, den Zünder zu betätigen. Es gab einen unglaublichen Krach, Wasser spritzte auf, Hölzer flogen umher, und dann war der Traum zu Ende.
An diesem Morgen fühlte sich Werthen hellwach und erwartungsvoll, durchdrungen von einem heiteren Optimismus, den er fast wie einen Talisman mit sich trug. Er konnte sich freuen wie ein junger Welpe, es war dieser Überschwang am frühen Morgen, der Berthe selbst an ihren guten Tagen frühmorgens so reizte.
Sie schlief noch, wenn auch unruhig. Es war ungewöhnlich, dass sie nicht tief schlief, aber er sagte sich, dass vielleicht das Baby der Grund war. Er rollte sich auf die Seite und betrachtete sie, wie sie so auf dem Rücken dalag, ihr Haar auf dem Damastkissen ausgebreitet. Ihr linkes Augenlid zuckte. Und durch die Vene unter ihrem Ohr pulsierte das Blut in einem regelmäßigem Rhythmus. Eine ganze Schar von Sommersprossen zeigte sich auf ihrem Nasenrücken und der oberen Hälfte ihrer Wangen. Plötzlich brach ihr regelmäßiger Atem ab, sie atmete einmal tief ein und öffnete ein Auge. Sie sah, wie er sie betrachtete, und lächelte.
»Guten Morgen, mein Liebes«, sagte er.
Ihre Antwort klang wie ein gedämpftes »Hmmm«.
»Es scheint wieder ein schöner Tag zu werden.«
Sie stöhnte erneut leise auf, als sie sich auf die ihm abgewandte Seite rollte. Er schmiegte sich an sie und zog sie mit seinem rechten Arm ganz dicht an sich heran.
»Schon so fröhlich am frühen Morgen?«, flüsterte sie.
»Ich habe auch gute Gründe dafür.«
Das brachte ihm ein weiteres unverbindliches »Hmmm« ein.
Er schnupperte an ihrem Haar, sog ihren Duft ein und spürte, wie sich ein Lächeln über sein ganzes Gesicht ausbreitete.
»Es tut mir sehr leid, dass ich dich mit all den Geschäften hier so alleinlasse«, sagte er und kehrte damit zu ihrem Gespräch vom vergangenen Abend zurück. »Gross ist ganz fixiert auf diese neuen Spuren, und ich muss zugeben, dass er auch mein Interesse entfacht hat.«
Sie rollte sich wieder zurück auf den Rücken und blinzelte ihn mit einem Auge an. »Er hat dein Interesse
entfacht
? Da spricht wieder unser hochtrabender Advokat, hm?«
Er küsste sie auf die Wange. »Also gut. Ich habe da so ein Gefühl, dass wir da einer sehr großen Sache auf der Spur sein könnten.«
»Gibt es denn etwas Größeres als den Versuch, den Direktor der Hofoper umzubringen?« Sie hatte jetzt beide Augen geöffnet. »Karl, es stecken nicht gleich hinter jedem Todesfall Verschwörungen und Morde in den höchsten Kreisen.«
»Das stimmt.«
»Du meinst, es ist falsch.« Sie seufzte. »Hast du vergessen, dass Brahms an Krebs gestorben ist?«
»Ich bin kein Arzt, aber ich beabsichtige, einen
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