Wiener Requiem
im April vor zwei Jahren, glaube ich. Und wenn Sie mich jetzt nach seinem Testament fragen, bekommen Sie Ihre Geschichte von menschlicher Hinterlist, Begierde und Neid. Um es kurz zu machen, Herr Brahms verstarb ohne einen Letzten Willen, woraufhin sich die verschiedensten Personen wegen seiner recht erheblichen Reichtümer an die Gurgel gingen. Der Streit ging angefangen von seiner Hauswirtin über seinen Musikverleger bis hin zu entfernten deutschen Cousinen. Die Angelegenheit ist immer noch auf ihrem Weg durch die Instanzen. Aber ich nehme an, Advokat Werthen, darüber wissen Sie nur zu gut Bescheid. Es hört sich an wie eine Geschichte von Dickens.«
»Allerdings«, entgegnete Werthen und war froh, nichts damit zu tun zu haben, weil das Verfahren mit Sicherheit nochein ganzes Jahrzehnt dauern würde und die Prozessparteien am Ende nur leere Bankkonten vorzuweisen haben würden. »Brahms wird sicherlich seinen Weg in die Lehrbücher finden als ein Paradebeispiel dafür, dass man rechtzeitig sein Testament schreiben sollte.«
»Allerdings stand Brahms im Krieg der Romantiker auf der anderen Seite«, sagte Gross.
Kraus nickte nachdrücklich. »Er und Hanslick zogen an einem Strang. Brahms hat ihm sogar Einblick in seine Kompositionen gegeben, bevor sie aufgeführt wurden. Die beiden hatten sich verschworen, um die Musikkultur Wiens zu gestalten. Sie saßen in verschiedenen Gremien, die Musikpreise verliehen, und sprachen ihr Urteil über die Arbeit junger Musiker des Konservatoriums. Einer dieser armen Unglücklichen … Ich habe seinen Namen vergessen, aber er wird mir wieder einfallen. Jedenfalls wurde einem dieser Studenten ein wahrhaft geniales musikalisches Talent nachgesagt. Dessen Komposition, eine Sinfonie, ließ Brahms nicht gelten, da diese Musik nicht von ihm stammen könnte. Sie wäre zu gut für das Werk eines einfachen Studenten des Konservatoriums. Damit zerstörte er einfach so eine vielversprechende Karriere. Wenig später wurde der Mann in einem Zug aufgegriffen; im Fieberwahn stammelte er etwas davon, Brahms habe eine Bombe in den Zug gelegt. Er starb später in einem Irrenhaus.«
Kraus hielt inne, immer noch auf der Suche nach dem entfallenen Namen schaute er hoch zu den Überresten eines Spinnennetzes, das an der Decke wie ein zerfetztes Fähnlein hing.
»Meinen Sie vielleicht einen Studenten namens Rott?«, fragte Werthen. Berthe hatte von dem jungen Mann erzählt, den Emma Adler erwähnt hatte.
»Ganz genau der ist es«, sagte Kraus. »Hans Rott. Sehr klug von Ihnen, Herr Advokat.«
Werthen nickte. Er fand diese erneute Erwähnung des jungen Musikers in einem ganz anderen Zusammenhang ziemlich eigenartig.
»Sei dem, wie es mag«, fuhr Kraus fort. »Brahms war jedoch keinesfalls nur ein aufgeblasener Wichtigtuer. Er war ein großer Anhänger von Strauß, wussten Sie das?«
Sowohl Werthen als auch Gross mussten zugeben, dass sie es nicht gewusst hatten.
»Ja, trotz Hanslicks Verachtung für Strauß’ Musik war Brahms ein Verehrer seiner Werke. Er schrieb sogar eine Widmung auf Adele Strauß’ Fächer. Unter die Anfangsnoten der ›Blauen Donau‹ schrieb er: ›Leider Gottes nicht von Brahms.‹ Er hatte durchaus einen gewissen Sinn für Humor. Und dann war da ja noch diese Geschichte mit der musikalischen Verschlüsselung …«
Kraus sah sie in der Hoffnung auf ein Zeichen der Bestätigung an, aber wieder blieben seine Anspielungen für Werthen und Gross im Dunkeln.
»Im ersten Fall beziehe ich mich auf ein Stück, das er mit Schumann schrieb, die F-A-E Sonate, gewidmet einem Violinisten, dessen Motto ›Frei aber einsam‹ war. Mit den Noten F, A und E umspielten sie das Thema, das Brahms später umänderte in F-A-F, ›frei aber froh‹. In derartigen Verschlüsselungen pflegte er auch liebreizende Anspielungen auf die Damen in seinem Leben zu verstecken. Auf Clara Schumann zum Beispiel mit musikalischen Motiven, die das C und ein Es für den Buchstaben S enthielten. Das Gleiche mit Adele Strauß, sagt man. Die A-Es-Kombination taucht in seinen späten Werken ständig auf.«
»Wollen Sie andeuten, dass Brahms und Frau Strauß …?«
»Wohl kaum«, erwiderte Kraus. »Große Komponisten sind nach meiner festen Überzeugung wie Eunuchen oder katholische Priester. Verheiratet mit einem höheren Gott, ihrer Kunst. Obwohl Clara Schumann immerhin verwitwet war, unterhielt Brahms, nach allem was man hört, eine Beziehung ohne jegliche Körperlichkeit zu ihr. Aber er hielt ihr die
Weitere Kostenlose Bücher